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Vorn

Titel: Vorn
Autoren: Andreas Bernard
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früh losfuhr
     – »wegen der Hitze auf der Autobahn«, so lautete ein Standardargument seines Vaters, oder »wegen des Verkehrs«. Von beidem
     war natürlich nichts zu spüren, denn im Auto ließen sie die Fenster hinunter, und die Straßen waren kaum befahren, weil sie
     immer erst gegen Ende der Sommerferien Urlaub machten. Es hatte wahrscheinlich verborgene psychologische Gründe, dass man
     den ersten Ferientag so verbissen anging – als müsse man sich auf der Reise noch einmal extra hart bestrafen, um sich dann
     die Erholung gönnen zu dürfen. Die Fahrten damals waren jedenfalls eine Katastrophe: Tobias’ Schwester und er nörgelten in
     ihrer Müdigkeit die ganze Zeit herum, und das Merkwürdigste war, dass sie am Urlaubsort immer so früh ankamen, dass die Hotelzimmer
     noch nicht zu beziehen waren und sie die Mittagsstunden in übermüdetem Zustand in der heißen, menschenleeren Altstadt des
     Ferienortes verbrachten.
     
    Auf dieser Fahrt mit Emily an den Gardasee verstand Tobias plötzlich, dass es erlaubt war, einen Urlaub auch ohne Hektik und
     Anspannung zu beginnen. In der Abendsonne fuhren sie Richtung Süden, und er registrierte zum ersten Mal Emilys kleine Rituale
     am Steuer, die sich dann bei so vielen Reisen mit ihr wiederholten: |31| Wie sie auf der Autobahn die normale Brille, die sie beim Fahren trug, irgendwann gegen eine Sonnenbrille austauschte; wie
     sie sich mit einer Hand ihre Lederjacke auszog, kunstvoll durch den Sicherheitsgurt hindurch (Tobias musste die Jacke dann
     nur noch hinter ihrem Rücken wegziehen). Unterwegs spürte er gelegentlich noch die alten Reflexe, etwa kurz vor der Grenze
     zu Österreich, als er mit einen Anflug von Nervosität darüber nachdachte, ob sie auch die Ausweise mitgenommen hätten. Das
     war früher ein verlässlicher Panikmoment in seiner Familie gewesen: Wenn sein Vater auf dem Beifahrersitz, schon kurz hinter
     Rosenheim, zu Tobias’ Mutter sagte: »Liebling, wo sind denn eigentlich die Pässe?« Wenn sie nicht innerhalb von Sekunden reagierte,
     weil sie sich gerade auf den Verkehr konzentrieren musste, wurde sein Vater unruhig, schaute sie fragend an und begann demonstrativ,
     im Handschuhfach und in der Handtasche von Tobias’ Mutter zu suchen. Natürlich gab es auf allen ihren Urlaubsreisen kein Problem
     mit den Ausweisen, doch sein Vater wollte sie immer mindestens fünf Kilometer vor dem Grenzübergang in Händen halten; er ordnete
     sie dann sorgfältig, schlug die Seite mit den Fotos auf, schob die vier Pässe ineinander (die beiden großen außen, die beiden
     Kinderausweise innen), und wenn sie an der Grenze angekommen waren, gab er sie Tobias’ Mutter und beugte sich hinüber zu dem
     Beamten, um durchs Fenster eine leicht unterwürfige Bemerkung zu machen. Der Grenzpolizist winkte sie dann immer gelangweilt
     durch, sah sich die Pässe nicht einmal an, und es war komisch zu beobachten, in welchem Missverhältnis die Belanglosigkeit
     der Kontrolle zu der vorangegangenen Aufregung |32| im Wagen stand. Eineinhalb Stunden später, ein paar Kilometer vor dem Brenner, ging das gleiche Spektakel von vorne los.
     
    Die gemeinsamen Reisen verbanden Tobias und Emily in den Jahren ihres Zusammenseins wie kaum etwas anderes, vor allem die
     Wochen, die sie in New York und Kalifornien verbrachten. Emily war noch nie in Amerika gewesen, bevor sie sich begegneten,
     und gerade Los Angeles erschien ihr als Reiseziel nicht besonders reizvoll; von Freunden hatte sie gehört, dass diese so unzugängliche
     Stadt, ohne jedes Zentrum, die Besucher erschlagen würde. Doch Tobias wusste, dass dieses Vorurteil sofort verginge, wenn
     sie das erste Mal im Auto den Sunset Boulevard entlangfahren würden, hinunter nach Malibu zum Meer, und er war dann auch fast
     ein wenig stolz, dass Emily Los Angeles vom ersten Tag an liebte und jedes Jahr von sich aus vorschlug, wieder dorthin zu
     fahren. Zurück kehrten sie aus Amerika immer mit doppelt so viel Gepäck wie bei der Hinreise. Vor dem Abflug mussten sie sich
     von Tobias’ Tante, in deren Haus sie in Los Angeles wohnen konnten, noch ein oder zwei zusätzliche Reisetaschen leihen, denn
     es hatten sich über die Wochen jedes Mal ganze Haufen von Einkaufstüten in ihrem Zimmer gestapelt: Pullover, T-Shirts und
     Jeans von Gap und Banana Republic und mehrere Paar Converse-Turnschuhe, die sie in einem der Läden auf dem Melrose Boulevard
     gekauft hatten, zu einem Bruchteil des Preises in Deutschland.
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