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Vorhang

Vorhang

Titel: Vorhang
Autoren: Agatha Christie
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sind wirklich der Gipfel, Poirot. Wie geht es Ihnen denn?«
    »Mir?«, fragte Poirot und verzog das Gesicht. »Ich bin ein Wrack. Ich bin am Ende. Ich kann nicht laufen. Ich bin verkrüppelt und entstellt. Gott sei Dank kann ich noch ohne fremde Hilfe essen, aber sonst muss ich wie ein Baby versorgt werden. Man muss mich ins Bett bringen, waschen und anziehen. Enfin, das ist nicht gerade amüsant. Zum Glück ist es nur die Schale, die zerfällt, der Kern ist noch ganz intakt.«
    »Ja, Sie haben das beste Herz der Welt.«
    »Herz? Ja, vielleicht. Ich habe allerdings nicht vom Herzen gesprochen. Mit Kern, mon cher, meine ich das Gehirn. Mein Gehirn funktioniert noch immer ausgezeichnet.«
    Ich konnte zumindest keine Veränderung hinsichtlich seiner Bescheidenheit feststellen.
    »Und Ihnen gefällt es hier?«, fragte ich.
    Poirot zuckte die Schultern. »So leidlich. Es ist natürlich nicht das Ritz. Weiß Gott nicht! Das Zimmer, in dem ich zuerst gewohnt habe, war klein und schlecht möbliert. Ich bin ohne Preisaufschlag in dieses hier umgezogen. Und dann das Essen: Englische Küche, so schlecht sie nur sein kann. Rosenkohl, so dick und hart, wie die Engländer ihn schätzen. Die Kartoffeln entweder verkocht oder steinhart. Das Gemüse, das nach Wasser, Wasser und nochmals Wasser schmeckt. An keinem Gericht ein Körnchen Salz oder Pfeffer – « Er legte eine eindrucksvolle Pause ein.
    »Das klingt ja grässlich«, bemerkte ich.
    »Ich will mich nicht beklagen«, sagte Poirot und jammerte weiter. »Und dann die sogenannte Modernisierung! Die Badezimmer und all die Wasserhähne, und was kommt aus ihnen heraus? Meistens lauwarmes Wasser, mon ami. Und die Handtücher, so dünn und hart!«
    »Die alten Zeiten hatten schon etwas für sich«, meinte ich gedankenvoll. Ich erinnerte mich an die Dampfwolken, die aus dem Hahn des einzigen Badezimmers, das es früher auf Styles gegeben hatte, gezischt waren, einem jener Badezimmer, in denen eine riesige, mahagoniverkleidete Wanne in der Mitte des Raumes geprunkt hatte. Ich dachte auch an die riesigen Badetücher und an die funkelnden Messingkannen mit kochend heißem Wasser neben den altmodischen Waschschüsseln.
    »Aber ich will mich nicht beklagen«, wiederholte Poirot. »Ich leide gern – für einen guten Zweck.«
    Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf.
    »Sagen Sie, Poirot, Sie sind doch nicht etwa – äh – knapp dran? Ich weiß, dass der Krieg den Kapitalanlagen sehr geschadet hat – «
    Poirot beruhigte mich sofort. »Nein, nein, mein Freund, mir fehlt es an nichts. Tatsächlich bin ich sogar vermögend. Es sind nicht wirtschaftliche Gründe, die mich hierherführen.«
    »Dann ist es ja gut«, sagte ich und fuhr fort: »Ich glaube, ich kann Sie verstehen. Je älter man wird, umso mehr neigt man dazu, in die Vergangenheit zurückzukehren. Man versucht, alte Gefühle wieder wachzurufen. In gewisser Weise schmerzt es mich, hier zu sein, und gleichzeitig werden unzählige Gedanken und Empfindungen in mir wach, die ich längst vergessen hatte. Ich nehme an, es geht Ihnen ähnlich.«
    »Nicht im Geringsten. Ich habe ganz andere Empfindungen!«
    »Das waren schöne Zeiten«, sagte ich wehmütig.
    »Für Sie vielleicht, Hastings! Was mich betrifft, so war meine Ankunft in Styles St. Mary eine traurige und schmerzliche Angelegenheit. Ich war ein Flüchtling, der verwundet und fern der Heimat auf das Wohlwollen fremder Menschen angewiesen war. Nein, schön war das bestimmt nicht. Ich wusste damals noch nicht, dass ich in England eine Heimat finden sollte und hier glücklich sein würde.«
    »Daran hatte ich nicht gedacht«, gab ich zu.
    »Eben. Sie schreiben immer andern die Empfindungen zu, die Sie selbst haben. Hastings war glücklich – also waren alle anderen auch glücklich.«
    »Nein, nein«, protestierte ich lachend.
    »Im Übrigen stimmt das auch gar nicht«, fuhr Poirot fort. »Sie blicken zurück und sagen mit Tränen in den Augen: ›Ach, die schönen Zeiten. Damals war ich noch jung!‹ Aber in Wirklichkeit, mein Freund, waren Sie nicht so glücklich, wie Sie glauben. Sie waren schwer verwundet und litten darunter, dass Sie für den aktiven Dienst untauglich geworden waren; Sie waren unbeschreiblich deprimiert durch Ihren Aufenthalt in einem Erholungsheim, und soweit ich mich erinnere, komplizierten Sie alles noch dadurch, dass Sie sich in zwei Frauen gleichzeitig verliebten.«
    Ich lachte und wurde rot.
    »Was für ein gutes Gedächtnis Sie haben,
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