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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm
Autoren: Theodor Fontane
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inzwischen hügelan, Kubalke zwei, drei Schritt vorauf, um besser leuchten zu können, denn nur wenige Sterne schienen, und hier und dort waren Wurzeln über den Weg gewachsen. Als sie halb hinauf waren, hielt er, bis der Geheimrat heran war, und sagte: »Passen S' Achtung, gnäd'ger Herr, hier ist Glatteis.« Und dann ins Plattdeutsche fallend, was ihm, trotzdem er Schulmeister war, aus Alter und Unachtsamkeit öfters passierte, schloß er seinen Satz: »De verdüwelten Jungens, se hebben hier 'ne Slidderboahn moakt. Un mihr as een. Se weeten nich, dat ook olle Lüd in de Welt rummerlopen. Olle Lüd, as wie
ick.
«
    »Wir werden so weit nicht auseinander sein«, sagte Ladalinski, dem die Weise, wie der Alte sprach, angenehm im Ohre klang.
    »Doch, doch«, antwortete dieser und fuhr dann, ebenso unwissentlich das Hochdeutsche wieder aufnehmend, fort: »Als ich so war, wie der gnäd'ge Herr jetzt sind, Mitte Sechzig oder so, da war meine Maline noch keine zehn Monat alt, und die Eve, die ja der gnäd'ge Herr auch kennen – drüben in Guse, aber jetzt hab ich sie wieder bei mir, denn es ist unser Nestküken –, ja das Evelchen, das war noch gar nicht geboren.«
    »Da sind Sie über achtzig, Papa?«
    »Dreiundachtzig. Das heißt nächsten dreizehnten August.«
    »... Und müssen also spät geheiratet haben.«
    »Ja, gnäd'ger Herr, das hab ich. Das heißt, es war die zweite Frau. Als ich das erste Mal auf die Freite ging, das war drei Jahr eher, als wir die Russen hier hatten, und ich war eben erst ins Dorf gekommen... Aber da sind wir schon.«
    Und dabei trat er auf die Steinstufen des tief eingeschnittenen Portals und schloß die große Kirchentür auf, die sich nach innen hin öffnete. Sie passierten erst den Turm zwischen dem Stubbenholz und den alten katholischen Altarpuppen hin, die zusammengefegt in der Ecke lagen, und schritten dann, an den Chorstühlen vorbei, den breiten Mittelgang hinauf, auf Altar und Kanzel zu.
    Als sie bis an die vorderste Stuhlreihe gekommen waren, wollte der Geheimrat nach links hin eintreten und sich einen Augenblick setzen; denn er bedurfte der Sammlung. Aber der alte Kubalke zog ihn hastig wieder zurück und sagte: »Nicht da, gnäd'ger Herr; das ist der Majorsstuhl.«
    Der Geheimrat sah ihn verwundert an.
    »Nicht da, gnäd'ger Herr«, wiederholte der Alte, »nicht da. Das war Anno 59, und ich seh es noch wie heute. Sie brachten ihn von Kunersdorf her, Grenadiere von Regiment Itzenplitz, und hier legten sie ihn nieder, hier auf diese Bank. Aber er hatte das Leben satt. ›Kinder, ich
will
sterben‹, sagte er und riß sich die Binden ab. Und da hat er sich verblutet. Es war den 12. August, den Tag vor meinem Geburtstag.«
    Bei diesen Worten hatte der alte Kubalke den Geheimrat nach der andern Seite hinübergezogen. Die vorderste Chorstuhlreihe war hier freilich geschlossen, aber in ihrer Front lief eine schmale Bank, auf der, wenn Konfirmation war, die Einsegnungskinder ihre Plätze hatten. Darauf setzten sich jetzt die beiden Alten und hatten nun die Bahre dicht vor sich, keine drei Schritt ab.
    Als sie sich eine Weile geruht, sagte Ladalinski: »Nun, denk ich, wollen wir den Deckel abnehmen.«
    »Noch nicht, gnäd'ger Herr. Sie müssen den jungen Herrn Sohn doch wenigstens sehen können. Und es ist ja noch so dunkel. Ein lieber junger Herr. Erst letzten Sonntag, da hab ich ihn hier eingeschlossen mit Marie Kniehase; denn ich habe keine Augen mehr. Und als ich nach einer Viertelstunde wiederkam, da stand er hier und hatte rote Backen. Dicht neben dem Majorsstuhl. Aber die Marie war noch röter. Ich will erst die Lichter anstecken, gnäd'ger Herr.«
    Damit ging er auf den Altar zu, nahm die Wachslichter von den großen Messingleuchtern und zündete sie an. Anfangs schien es, daß sie wieder verlöschen wollten, aber zuletzt brannten sie, und der Alte, während er jetzt die Bahrdecke fortnahm und auf die Altarstufen niederlegte, sagte ruhig: »Nu, mit Gott, gnäd'ger Herr.«
    Ladalinski hatte sich erhoben und stellte sich an die eine Schmalseite des Sarges.
    »Steh ich zu Häupten oder zu Füßen?« fragte er.
    »Zu Häupten.«
    »Ich will doch lieber zu Füßen stehen.«
    Darnach wechselten sie die Plätze und hoben nun den Deckel ab, der alte Geheimrat mit krampfhaft geschlossenem Auge.
    Und nun erst sah er auf den Sohn, fest und lange, und fand zu seiner eigenen Überraschung, daß sein Herz immer ruhiger schlug. Was war es am Ende? Er war tot. Und er fühlte tief in seiner
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