Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von Natur aus kreativ

Von Natur aus kreativ

Titel: Von Natur aus kreativ
Autoren: Ernst Poeppel , Beatrice Wagner
Vom Netzwerk:
…“, und es folgte eine fünfstellige Ziffer, die Herrn K. nichts sagte. Die Empfangsdame erklärte geschäftsmäßig, dass er nun kein eigenes Büro mehr besitze. Aber mit dem Transponder, den sie ihm überreichte, könne er jeden Büroraum in seiner Abteilung öffnen. Und die PIN-Nummer auf dem Zettel sei für den Laptop und das Telefon. Seinen früheren Computer könne er nicht mehr benutzen, der sei sowieso veraltet gewesen. Nun sei alles modernisiert, man habe im ganzen Tower nur noch geleaste Laptops, die jedes Jahr erneuert werden. Doch selbstverständlich sei sein Account unberührt. Wenn er mit dem Transponder ein Büro betrete und mit der PIN-Nummer das Telefon entsperre, werden Anrufe, die für ihn bestimmt sind, automatisch an diese Nebenstelle geleitet. Es sei ganz einfach. Dann drückte sie ihm noch einen Briefumschlag in die Hand und wünschte ihm einen schönen Arbeitstag.
    Herr K. war platt. Drei Wochen Urlaub, und jetzt das. Erst mal einen Kaffee, um die Gedanken zu ordnen. Zumindest der Automat stand noch an der alten Stelle. Im Umschlag, den ihm die Empfangsdame gegeben hatte, war ein Anschreiben seines Chefs: „Wir haben festgestellt, dass unsere Mitarbeiter 70 Prozent ihrer Arbeitszeit nicht in ihren Büroräumen verbringen. Sie halten Meetings ab oder sind auf Kongressen, haben Urlaub oder befinden sich in der Kaffeepause. Und zehn Prozent sind immer auf der Toilette. Deswegen haben wir nach der Gleitzeit nun auch die ‚gleitenden Büroräume‘ eingeführt. Das hat für Sie den Vorteil, dass Sie sich in jedem Büroraum niederlassen können, der frei ist. In Stoßzeiten müssen Sie damit rechnen, dass alle Büros belegt sind. In einem solchen Fall können Sie jederzeit in eine der Arbeitslounges ausweichen und dort einen Einzelarbeitsplatz belegen.“
    Herrn K. fiel ein, dass auf seinem alten Schreibtisch noch Fotos von seiner Frau und seinen Kindern gestanden hatten. Und in den Schubladen lagen Aspirin, eine Packung Zigaretten, weil ihm seine Frau zu Hause das Rauchen untersagte, und aus ähnlichen Gründen eine Packung Kondome. Was war damit? „Ihre Sachen haben wir unter Aufsicht eines Juristen in einer abschließbaren Box verstaut, diese händige ich Ihnen heute bei Feierabend aus“, schnurrte die Empfangsdame mechanisch. Wahrscheinlich hatte sie das in den letzten Tagen schon mehrere Hundert Mal erklärt. Dass seine persönlichen Dinge, die wenigen, die er im Büro hatte, von anderen einfach angefasst und zusammengepackt worden waren, traf Herrn K. mehr als die Umorganisation seines Büros. Ihm kamen die Bilder von einer kürzlich stattgefundenen Kernreaktor-Katastrophe in den Sinn. Die Arbeiter im zerstörten Kraftwerk hatten alles Persönliche abgelegt und Schutzkleidung angezogen, eine Gasmaske, Schutzanzug, -schuhe und -handschuhe. Keiner war mehr vom anderen zu unterscheiden gewesen. Nicht mehr wie Individuen sahen sie aus, sondern wie austauschbare Arbeitsroboter. Und genau so fühlte sich Herr K. Er nahm seine Utensilien und ließ sich einen freien Raum zuteilen. Endlich am Schreibtisch, loggte er sich in seinen Account ein. Er blickte lange auf die Datenketten auf seinem Bildschirm. Doch an diesem Tag wusste er damit einfach nichts anzufangen.
    Aus Sicht der Hirnforschung verständlich. Wir sind von Natur aus ortsverankerte Wesen. Wir brauchen für die Entfaltung unserer Möglichkeiten Sicherheit, und diese Sicherheit wird uns dann gegeben, wenn wir uns irgendwo heimisch fühlen. Da viele einen großen Teil ihrer Zeit in einem Büro zubringen, ist das ebenfalls ein Ort, an dem wir uns heimisch fühlen könnten und es intuitiv auch wollen. In einem neuen Arbeitsraum breiten wir häufig zuerst die persönlichen Dinge aus, und seien es nur die eigene Kaffeetasse und ein Foto. Damit wird ein Revier in Besitz genommen, der Raum wird zu einem persönlichen Ort, zu einem Bezugspunkt, von dem aus man lebt und handelt.
    Der geschützte Raum ermöglicht eine Erweiterung unserer Innenperspektive, aus der heraus wir die Welt betrachten. Indem wir persönliche Sachen um uns herum verteilen, erweitern wir sozusagen unser Inneres. Der Schreibtisch, der Laptop, die Bilder und Bücher um uns herum sind Teile unserer selbst und helfen, uns am Arbeitsplatz heimisch zu fühlen. Der japanische Hirnforscher Atsushi Iriki hat dies einmal an Makaken beobachtet. Die Gehirnstruktur dieser kleinen Affen ist der von uns Menschen sehr ähnlich. Wenn ein solcher Makake versuchte, mit einem Stöckchen an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher