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Von Draussen

Von Draussen

Titel: Von Draussen
Autoren: Raimon Weber
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Flasche in einen schmalen Spalt auf dem gefliesten Fußboden. Gift gegen die Greybugs, vermute ich. Manchmal bebt die Erde. Erst in der letzten Nacht wurde ich durch eine Welle von Erschütterungen wach. Fundamente verschieben sich, Risse entstehen auf Straßen und an Gebäuden. Daraus kommen dann die widerlichen Greybugs hervor. Ovale, graue Käfer ohne Kopf und sichtbare Sinnesorgane. Sie sind extrem widerstandsfähig. Wenn man versucht, sie zu zertreten, glaubt man nachgiebiges Gummi unter der Schuhsohle zu spüren. Anschließend flitzen sie völlig unversehrt davon. Man muss sie vergiften, zerschneiden oder verbrennen.
    Ich habe jetzt einige Stunden Freizeit, die ich bei meinem Großvater verbringen möchte. Er ist der einzige Verwandte, den ich habe. Ich glaube, dass er nur mir zuliebe noch nicht gestorben ist. Obwohl er sehr krank ist und unter ständigen Schmerzen leidet. Meine Besuche, so betont er immer wieder, sind die einzigen Lichtblicke in seinem ansonsten so tristen Dasein. Manchmal, von einem Moment zum anderen, beginnt er zu weinen. Wenn ich ihn nach dem Grund frage, gibt er mir keine vernünftige Antwort.
    An meine Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war keine zwei Jahre alt, als sie durch das Draußen getötet wurden. Wie alle aus ihrer Generation.
    Im Bedarfs-Center werde ich ein kleines Geschenk für Großvater besorgen.

- 2 -

    Die Bedarfs-Center sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Das Größte befindet sich zum Glück in der Nähe der Schule. Hier kann man sicher sein, fast alles Notwendige zu bekommen. Das Center ist im Parterre eines riesigen Gebäudes untergebracht. Von außen wirkt es mit seinen Erkern und Verzierungen, umrahmt von quadratischen Wohn- und Verwaltungsblöcken, völlig deplaziert. Ich will gerade die ausladenden Treppenstufen erklimmen, als ein riesiger Schatten über den Himmel gleitet. Ich richte den Blick reflexartig in die Höhe. Doch was immer da über die Stadt gleitet, ist zu schnell, um von mir erfasst zu werden. Normalerweise gibt es nichts Ungewöhnliches am Himmel zu entdecken. Wolken und Sonne am Tag, unzählige Sterne und einen blassen Mond in der Nacht. Und den Regen. Aber der kann uns nicht erreichen. Die Tropfen prallen am Schutzschild ab.
    Jetzt bemerke ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Spruch über dem Eingang des Bedarf-Centers.
    Beurteile den Tag nicht nach dem was du geerntet hast, sondern danach, was du ausgesät hast.
    Die einzelnen Wörter sind verblasst. Irgendwann in naher Zukunft werden sie vollständig verschwunden sein. Sie passen so gar nicht an diesen Ort. Vielleicht weiß Großvater etwas über den Ursprung der Worte.
    Im Eingangsbereich stehen noch mehrere Einkaufswagen. Würden alle benutzt, müsste ich warten, bis ein Kunde seinen Wagen nicht mehr benötigt und ihn wieder abstellt. Manchmal bilden sich so lange Warteschlangen, aber dafür herrscht im Inneren des Centers nie ein Gedränge.
    Heute ist der hintere Teil des Centers unbeleuchtet und durch gelbe Bänder abgesperrt. Das bedeutet, dass es weder Fleisch, noch Obst oder Gemüse gibt. Bei diesen Nahrungsmitteln kommt es immer wieder zu Engpässen, da sie von Tieren und Pflanzen stammen, die innerhalb der Stadt gezüchtet werden. Nahrung von außerhalb ist, so haben Untersuchungen in der Vergangenheit gezeigt, ungenießbar und nicht selten sogar hochgiftig.
    Die Regale sind mäßig gefüllt. Nur die Dosen mit der gelben Beschriftung Supreme sind allgegenwärtig. Sie enthalten eine hellbraune, halbfeste Masse, die durch Erhitzen ein entfernt nussig schmeckendes Aroma entwickelt. Supreme enthält alle lebensnotwendigen Nährstoffe. Nimmt man zusätzlich ausreichend Flüssigkeit zu sich, benötigt man eigentlich keine anderen Lebensmittel. Aber der Bürgermeister und seine Mitarbeiter setzen natürlich alles daran, den Menschen Abwechslung, ja, sogar ein wenig Luxus zu ermöglichen. Letzte Woche gab es jeden Tag Speiseeis.
    Zu meiner Freude entdecke ich in einer Regalreihe eine kleine Schachtel Schokomints. Ich weiß, dass Großvater sie ganz besonders mag. Sie kostet nur noch acht Mac-Kingsley-Punkte. Früher lag der Preis bei einem nahezu unerschwinglichen Boy. Ich hole die Karten aus meiner Jackentasche: drei Zweier, zwei Vierer. Das ist nicht viel. Normalerweise würde ich mit den Karten an der Kasse ein Spielchen wagen. Gewinne ich die Partie, gibt es die Schokomints umsonst und vielleicht sogar ein paar Extrapunkte. Aber heute will ich das Risiko nicht
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