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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat
Autoren: Thomas Stompe
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dass 80 Prozent der Schizophrenien sporadisch und daher ohne erkennbare weitere Erkrankungsfälle in der Familie auftreten. In diesen Fällen findet man gelegentlich Geburtskomplikationen und Schwangerschaftsinfektionen in der Anamnese. Neben diesen biologischen Faktoren können auch psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen. Kritische Lebensereignisse wie Ortswechsel (z. B. Migration), Eintritt in den Beruf oder Arbeitsplatzwechsel, beruflicher Auf- oder Abstieg, Ablösung vom Elternhaus, Beginn bzw. Ende einer Partnerschaft usw. stellen besondere Anforderungen an das Adaptionspotenzial des Betroffenen. Erkrankungsbedingte Funktionseinschränkungen mindern dabei die Kompetenz, diese klassischen Lebensthemen zu bewältigen. Auch Kommunikationsstörungen innerhalb der Familien der Betroffenen können einen Beitrag zur Erkrankung, vor allem zum Wiedererkrankungsrisiko leisten. Wie bei normalen psychischen Funktionsabläufen ist auch bei psychopathologischen Phänomenen wie der Schizophrenie von einem neurochemischen Korrelat auszugehen. Im Zuge der Erkrankung kommt es zu einer Regulationsstörung des Dopaminstoffwechsels, eines Neurotransmitters, der für das Belohnungssystem im Gehirn eine entscheidende Rolle spielt. Gefunden wurde eine Überaktivität in den limbischen Hirnregionen, die eine wichtige Rolle in der Regulation der Emotionen spielen.
    Der Verlauf der Schizophrenien kann genauso wie die Querschnittsymptomatik sehr unterschiedlich sein. Die Krankheit bricht zumeist im Verlauf des dritten Lebensjahrzehnts aus. Nicht immer, aber in einer Vielzahl von Fällen geht der eigentlichen Erkrankung eine Vorläuferphase voraus, die einige Monate bis viele Jahre andauern kann. Häufig sind in dieser Phase Auffälligkeiten wie ein schwindendes Engagement in der Schule oder bei der Arbeit, eine Vernachlässigung der Körperhygiene und der Kleidung, ungewohnte Launenhaftigkeit oder Wutausbrüche sowie sozialer Rückzug von der Familie zu beobachten. Eltern und Lehrer schätzen diese Entwicklung nicht selten als Pubertäts- oder Adoleszenzkrisen ein. Treten die ersten oben beschriebenen psychotischen Symptome auf, so spricht man von der Erstmanifestation oder der aktiven Erkrankungsphase. Die psychotische Symptomatik kann sich in manchen Fällen komplett zurückbilden, um eventuell nach Jahren wieder aufzutreten. Meistens verläuft jedoch die Erkrankung schubhaft und ohne komplette Remission der positiven oder negativen Symptomatik, in vielen Fällen chronisch fortschreitend ohne abgesetzte psychotische Episoden. Hinsichtlich der psychischen Langzeitfolgen zeigt sich, dass etwa 20 Prozent der nachuntersuchten Patienten eine Vollremission aufweisen, etwa 45 Prozent ein uncharakteristisches und 35 Prozent ein charakteristisches Residuum. Das uncharakteristische Residuum ist hauptsächlich durch eine kognitive und dynamische Insuffizienz (eingeschränkte Funktionsfähigkeit) gekennzeichnet, während man beim charakteristischen Residuum Bleuler’sche Grundsymptome wie Denkzerfahrenheit, Parathymie und Autismus sowie Kurt Schneiders Erstrangsymptome finden kann. Auch die sozialen Langzeitfolgen der Erkrankung sind beträchtlich, nur etwa 50 Prozent der Patienten sind nach zwei Jahrzehnten Erkrankung erwerbstätig, zwei Drittel davon auf dem ursprünglichen Niveau, ein Drittel unterhalb des früheren Niveaus.

2. DIE RECHTLICHEN RAHMENBEDINGUNGEN DES ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUGS
    In der Forensischen Psychiatrie ist die Frage der Schuldbzw. Zurechnungsfähigkeit ein ganz zentrales Thema. Der fachliche Diskurs war allerdings lange Zeit keineswegs von der ärztlichen Profession bestimmt, sondern wurde, wie etwa während der Zeit der Aufklärung, vom rechtsphilosophischen Diskurs der Naturrechtsbewegung dominiert. Deren Doktrin der Abhängigkeit des Ausmaßes an Schuld von einer abgestuften Willensfreiheit fand Eingang in die
Constitutio Criminalis Theresiana
(1770). Dort hieß es: „Eines Verbrechens können sich alle und jede ohne Unterschied des Standes und des Geschlechts schuldig machen, welche den Gebrauch ihrer Vernunft und freyen Willen haben; dahingegen sind jene, welche es an einem oder anderen ermangelt, eines Verbrechens unfähig.“
    1783 wurde im Zuge der Errichtung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien der „Narrenturm“ mit 139 Zellen erbaut. 1806 erfolgte in Österreich erstmals eine medizinische Überprüfung der psychischen Verfassung eines Mörders, und ab 1840 wurde vom Gericht im Zweifel
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