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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Autoren: Clough Patricia
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›Setzen Sie sich doch‹, sagte ich schon etwas sanftmütiger, ›bitte, nur für ein paar Minuten. Reden wir einfach darüber, ich will es nur verstehen.‹ Ich führte ihn zu einem Sessel, holte zwei Gläser und eine Flasche Rotwein, ein paar Nüsse, und setzte mich zu ihm.
    Es war eine lange Geschichte. Erst sprach er sehr zögerlich, ich musste immer wieder nachhaken. Aber nach einer Weile begann der Wein zu wirken, mein Sänger entspannte sich und erzählte. Um es kurz zu machen: Er litt unter einer bestimmten Form von Depression, einer Art geistiger Lähmung, die ihm jedes Selbstwertgefühl nahm. Jede Herausforderung war ihm zu viel, der Zustand hätte ihn beinahe schon die Ehe und seine Anstellung gekostet. Er hatte eine Psychotherapie hinter sich und gelernt, seine Krankheit in den Griff zu bekommen: mit Medikamenten, mit Ausdauersport und – ja – mit dem Singen. Nun aber war die Firma, in der er arbeitete, durch die Rezession in Schwierigkeiten geraten, er war gezwungen, guten und loyalen Leuten zu kündigen. Außerdem war seine Frau drauf und dran, ihn zu verlassen. Es sei eine komplexe, schwierige Beziehung gewesen, erklärte er. Er liebe sie nicht mehr, aber gemeinsam mit dem Sohn und dem Haus bilde sie die Grundlage seines Lebens. Nun verlören die Medikamente ihre Wirkung, er fühle sich wieder wie gelähmt, überflüssig, was zu einem weiteren Problem führte … Seine Stimme wurde so leise, dass ich ihn nicht mehr verstehen konnte.
    Ich tat, was ich tun konnte. Ich sagte ihm, dass diese Lebensphase, so schlimm sie auch sei, eines Tages zu Ende gehen werde, dass es besser werden würde. Ich sagte, er sei ein wunderbarer Mensch und ein toller Sänger, und dann sprudelte es plötzlich nur so aus mir heraus: Wie sehr ich ihn liebte, wie er mein Leben verändert habe. Und noch während ich den Satz zu Ende sprach, dachte ich voller Schrecken: Um Himmels willen, was habe ich nur gemacht? Jetzt habe ich es vermasselt! Jetzt will er bestimmt nichts mehr von mir wissen! Doch statt mich zurückzuweisen, sagte er: ›Ich war gelähmt, weil ich Angst hatte, vor Ihnen nicht zu bestehen, weil ich nicht wusste, ob ich die Hoffnungen erfüllen konnte, die Sie in mich gesetzt hatten. Ich habe Sie nämlich geliebt, seit Sie mir beim Vorsingen die Mozartarie in die Hand gedrückt haben, ich bin wie besessen von Ihnen …‹
    Nicht zu fassen, oder?«, sagte Charlotte zu mir. »Ich war sprachlos. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit. Viel mehr kann ich über den Abend nicht erzählen, es war wundervoll, ein einziger, euphorischer Rausch. Es gelang mir, ihn sozusagen wieder auf die Beine zu stellen. Er ließ sich auch dazu überreden, das Solo zu machen, doch selbst ich zitterte bis zum letzten Moment. Der Messias war schließlich ein Triumph, er wurde als großes Talent gefeiert.
    Das hört sich nach einem Happy-End an, doch das Leben geht ja weiter. Er hatte weiterhin die Schwierigkeiten bei der Arbeit, die Trennung von seiner Frau belastete ihn, und auch die Probleme mit seinem Kind. Doch wenn er bei mir war, fand er Halt. Er verstand, dass die Probleme, eins nach dem anderen, durchaus zu bewältigen waren.
    Der Altersunterschied ist überhaupt kein Problem. Wenn ich über uns nachgedacht habe, habe ich immer befürchtet, dass ihn – und auch mich selbst – meine Falten, die nicht vorhandene Taille und all das stören könnten, dass er es unerotisch finden könnte. Aber das tat er nicht. ›So bist du‹, sagt er, ›und so liebe ich dich‹. Etwas Schöneres gibt es doch gar nicht. Wir wohnen zusammen, wir sind sehr, sehr glücklich miteinander. Der Chor hat akzeptiert, dass wir ein Paar sind, sie haben sich richtig für uns gefreut. Wir gehören also zusammen, wir haben einander. Über die Zukunft machen wir uns erst einmal keine Gedanken.«
    Eines Tages, als Sissi gerade einen großen Beutel Kaffeebohnen in die Maschine kippte, sah sie zur Tür und erkannte den Umriss einer ihr sehr vertrauten Figur. Es war Dirk.
    Â»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
    Â»Ich komme gerade von der alten Bank, ich hatte da zu tun, und dachte, ich schaue einfach mal vorbei. Sieht toll aus hier, herzlichen Glückwunsch! Wie läuft es denn so?«
    Soweit Sissi wusste, war Dirk noch nicht im Café gewesen. Kurz nach ihrer Trennung hatte er die Bank
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