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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Autoren: Clough Patricia
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Selbst wenn man so jemanden findet, heißt es noch lange nicht, dass man ihn auch mag.
    Wenn es zu solchen späten Lieben kommt, ist die Überraschung, die Verwunderung meistens besonders groß. Vielleicht liegt es daran, dass man sich an das Gefühl der Verliebtheit nicht mehr so recht erinnert. Vielleicht ist es gerade der Überraschungsmoment, der die Erfahrung aufwertet. Wer weiß das schon? Ich glaube, dass es in diesem Bereich für Psychologen noch eine Menge zu entdecken gibt. Die Forscher könnten sich zum Beispiel mit dem Fall Charlotte auseinandersetzen, von der ich als Nächstes erzählen möchte.
    Â»Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht damit«, erzählte Charlotte mir. »Fünfzehn Jahre waren seit meiner Trennung vergangen. Seitdem war nichts passiert. Ich suchte auch nicht nach einer Beziehung. Wahrscheinlich habe ich einfach akzeptiert, dass ich alt geworden bin und an Liebe und Sex kein Interesse mehr haben sollte. Ich war mit meinem Leben sehr zufrieden. Ich hatte als Gesangslehrerin am Konservatorium gearbeitet, musste aber mit fünfundsechzig aufhören. Kurz darauf hat man mich gebeten, den Chor in unserer Stadt zu leiten, was ich mit Herz und Seele gerne tue. Der Chor ist meine ganze Leidenschaft, es macht mich ungemein stolz, wie gut wir vorangekommen sind. Wir haben Preise gewonnen, sind im Radio und im Fernsehen aufgetreten, wir können uns vor Einladungen aus Deutschland und aus dem Ausland kaum retten. Sie sind unglaublich motiviert.
    Natürlich war es eine Herausforderung, einen solchen Chor zu leiten. Da unsere Sänger alle Amateure sind, kann es vorkommen, dass wir unsere besten Leute verlieren. Sie ziehen weg oder kommen aus anderen Gründen nicht wieder. Es gibt immer genug Leute, die gern mitmachen würden, aber die Stimme und die musikalische Ausbildung reichen oft einfach nicht aus.
    Umso größer war meine Freude, als eines Tages ein Mann zum Vorsingen erschien, der eine hervorragende, ausdrucksstarke Bassstimme mit sehr gutem Tonumfang hatte. Allerdings musste diese Stimme noch ausgebildet werden. Ich sah ihn schon bei seinem ersten Solo, auch wenn es unrealistisch war – wir hatten schon zwei gute Solisten in dieser Stimmlage. Streit und Eifersüchteleien mussten natürlich um jeden Preis vermieden werden. Ich beschloss also, ihn ganz normal in den Chor einzureihen. Er sollte die anderen kennenlernen, dann würde man weitersehen.
    Später erfuhr ich, dass er sechsundvierzig war. Er arbeitete als leitender Angestellter in einer großen Baufirma und war erst kürzlich versetzt worden, um in unserer Stadt die Niederlassung zu übernehmen. Ich ging davon aus, dass er ein Überflieger war, einer, der nichts falschmachen konnte. Irgendwann würde er die ganze Firma leiten und vermutlich weiterziehen in eine andere Stadt. Was mich verwirrte, war, dass er teilweise sehr reserviert, beinahe enigmatisch wirkte. Wenn wir nicht über die Musik sprachen, schwieg er meistens. Ich hatte keine Zeit, mir Gedanken darüber zu machen. Also erklärte ich ihm den Chor und die Kantate, an der wir gerade arbeiteten, und gab ihm Chornoten mit nach Hause, damit er üben konnte. Bei der ersten Probe stellte ich ihn dem Chor vor und sprach persönlich mit den anderen Bässen. Er hatte bereits Chorerfahrung, und als wir mit den Proben begannen, war schnell klar, dass er sich sehr gut zurechtfinden würde. Dann vergaß ich ihn beinahe.
    Doch am Ostersonntag sollten wir Händels Messias in der großartigen Stiftskirche singen. Es war nicht besonders schwierig, der Chor konnte das Stück beinahe auswendig. Ein paar Proben würden genügen, um uns wieder auf Konzertniveau zu bringen. Schwierigkeiten hatten wir zu dieser Jahreszeit allerdings mit Erkältungen, Husten, Grippe und all den anderen Krankheiten, die einen Chor durcheinanderwirbeln können. Mehrere Sänger wurden krank und sagten ab, auch der Bassist, der normalerweise die Soli singt. Er hatte sich eine starke Bronchitis zugezogen und würde sicherlich nicht mehr rechtzeitig zum Konzert gesund werden. Der Kollege, der normalerweise den Part übernommen hätte, war auf einer längeren Auslandsreise. Da wir nur ein kleines Budget hatten, wollte ich vermeiden, jemanden von außen zu bezahlen. Also dachte ich, vielleicht ist dies der richtige Moment … Im Gegensatz zu den Sopranistinnen waren die anderen Bässe zum Glück nicht
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