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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Autoren: Sylvester Walch
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reduziert. Subjektive Beschreibungen wurden als Fehlerquelle aussortiert.
    Wenn man jedoch versucht, Erlebnisinhalte ausschließlich über Beobachtungsbegriffe, die streng von Methoden abgeleitet werden, zu definieren, sagt das mehr über die Methoden als über das zu Erkennende aus. Deshalb bezeichneten die deskriptiven Psychologen die Untersuchungen ihrer naturwissenschaftlichen Kollegen als seelenlos, denn nur über die Innenschau kann man tiefere Einsichten in das Wesen des Menschen erlangen. Will die Psychologie aber der Doppelnatur ihres Faches wirklich gerecht werden, muss beides möglich sein, denn dann kann sie sowohl die psychophysischen Grundlagen als auch die Motivations- und Sinnzusammenhänge erforschen. Erst wenn unterschiedliche Weisen des Sehens anerkannt werden, brauchen sich Fragestellungen nicht mehr Methoden unterzuordnen. Abhängig davon, was ich untersuchen möchte, wähle ich den jeweils richtigen Zugang aus.
    Methoden sind nur Hilfsvorrichtungen, die zur Exploration, Sicherung und Ermöglichung künftiger Begründungen dienen. Seelische Zustände sind aber gerade nicht messbar und wägbar, diskret, räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Wenn sich zum Beispiel Forschungen über die Liebe damit begnügen würden, den Hautwiderstand zu messen, würde man sicherlich das Wesentliche aus den Augen verlieren. Befragt man jedoch vier oder fünf Menschen, wie sie Liebe empfinden, dann werden nicht nur unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Antworten kommen, sondern derselbe Mensch würde zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine jeweils andere Antwort geben, je nachdem, wie sich gerade seine Beziehungen gestalten. Ein enttäuschter Liebhaber würde die Liebe als eine vorübergehende Illusion beschreiben, während für ein Paar, das inzwischen goldene Hochzeit gefeiert hat, die Hauptmerkmale der Liebe in Verlässlichkeit und Geborgenheit bestehen. Haben nicht beide Beschreibungen mehr Gehalt, auch wenn sie subjektiv sind? Außerdem kann die Tatsache, dass der Forscher selbst einmal verliebt war, die Untersuchung positiv beeinflussen. Erklärt man die Eigenschaften der Liebe nur über die Pulsfrequenz, chemische oder physikalische Prozesse, verliert sich ihr Zauber; vor allem aber reduziert sich die Qualität der Aussagen.
    Lebensweltliche Analysen sind unvollständig, wenn sie wegen der Forderung nach Neutralität die Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt opfern. Der Versuch, Bewusstseinsaktivitäten gänzlich neurobiologisch zu erklären, scheitert schon bei elementaren subjektiven Erlebnissen. Wie jemand einen stechenden Schmerz in der Brustgegend empfindet, kann nur von der betreffenden Person selbst unmittelbar erlebt und ausgedrückt werden. So, wie es für jemanden ist, wird nur über die Erste-Person-Perspektive zugänglich und kann nicht über Hirnbilder sichtbar gemacht werden.
    Wird Erfahrungswissen nicht zugelassen, muss im Verhältnis zur Fragestellung ein riesiger experimenteller Aufwand geleistet werden, um zu plausiblen Erklärungen zu kommen. Eine längst bekannte Tatsache, dass nämlich Psychotherapeuten mit den geschilderten Problemen ihrer Klienten weniger identifiziert sind als Bekannte oder Freunde, wurde nun auch noch mit komplizierten technischen Mitteln hirnphysiologisch nachgewiesen. In der Fachterminologie heißt das, dass Selbstbezüglichkeit und Empathie in therapeutischen Beziehungen weniger nahe beieinanderliegen als in freundschaftlichen Beziehungen. Darauf hat Freud schon vor vielen Jahrzehnten in der Beschreibung der Behandlungstechnik hingewiesen.
    Auch Bestrebungen, therapeutische Behandlungen dadurch effektiver zu gestalten, dass man die sprachliche Beteiligung des Klienten reduziert, die Gedanken ausliest und neu programmiert, sind schon von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Das wäre so, als würde man glauben, dass ein teurerer Fernseher das bessere Programm übertragen würde. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man Gewaltverbrecher durch die Aktivierung toter Hirnregionen, die für Empathie zuständig sind, wieder gesellschaftsfähiger machen möchte.
    Die komplexe Entwicklung zu mitfühlendem Verstehen, dessen Wurzeln bis in den Mutterleib zurückreichen, wird in solchen Vorschlägen jedoch bedenkenlos außer Acht gelassen. Die Ursachen von Reifungsprozessen allein in physiologischen Strukturen zu suchen verkürzt die daran beteiligten Interaktionen bis zur Unkenntlichkeit. Dies führt zwangsläufig zu falschen Schlüssen
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