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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Autoren: Liv Winterberg
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Ende der Woche mitteilst, welcher der Herren, die ich in den letzten Wochen eingeladen habe, als Ehemann für dich in Frage kommt, werde ich das für dich entscheiden. Es ist vorbei! Dieser ganze Unfug hier ist vorbei!«
    Mary hatte keine Kraft mehr, etwas zu entgegnen, und hörte, dass Henriette sich umdrehte und in Richtung Hof lief. Sicherlich würde sie wieder Stellung beziehen, um die Arbeit voranzutreiben. Jedes entsorgte Möbelstück brachte sie ein Stück weiter. Weiter nach Hause. Weg von ihr.
    Teilnahmslos musterte sie den Mann im Behandlungsraum. Es war der junge Doktor aus der St. Jones Street. Sicherlich war er gekommen, um für seine neugegründete Praxis Instrumente günstig zu erstehen. Sollte er!
    Einer der Packer verließ, einen Arzneischrank auf dem Rücken, das Durcheinander.
    Mary stand vor einem Stapel hölzerner Kisten. Langsam fiel sie auf die Knie und gab dem Gewicht nach, das auf ihren Schultern lag und aus ihrer Lunge einen Laut presste, der dem eines waidwunden Tieres ähnelte. Sie zog die obere Lage des Rockes hoch und verbarg ihr Gesicht darin. Und während die Tränen in den Stoff tropften, war sie erstaunt, dass ihre Gedanken zu dem schmächtigen Arzt flüchteten. Jetzt konnte er den weißen Unterrock sehen und den Saum aus feiner Stickerei. Er musste unruhig werden. Denn was sollte man denken, wenn man ihn hier fand, auf ihren Unterrock starrend? Den Unterrock einer Fremden. Er war jung, und er war nett. Und er tat ihr fast ein wenig leid, wie er inmitten der Flaschen, Tiegel und Apparaturen einer greinenden Frau gegenüberstand. Blass, fast unsichtbar.
    Unsichtbar?
    Unsichtbar!
    Nach Luft ringend, sprang Mary auf und fixierte den Schreibtisch. Auch hier hatten die Männer ganze Arbeit geleistet. Die Türen standen offen, die Unterlagen waren aus den Fächern herausgenommenund auf die Schreibtischplatte geworfen worden. Ihre Finger wühlten sich durch das Papier, entdeckten die Teakschatulle mit dem Schmetterling und schoben sie unter den Umhang. Flugs ergriff sie noch einen Kohlestift und verschwand. Erst im Flur hielt sie kurz inne, wandte sich um und sah, dass der junge Arzt einen Augenblick zögerte und mit den Schultern zuckte.
     
    Reglos saß sie den Nachmittag unter der Birke und sah dem Treiben zu. Das Wetter klarte auf. Die Sonne brach aus den Wolken hervor und verlieh jedem Gegenstand, der aus dem Haus getragen wurde, scharf umrissene Schatten.
    Weitere Interessenten erschienen, um den Ausverkauf in Augenschein zu nehmen. Die Erd- und Himmelsgloben verschwanden. An ihnen hatte ihr der Vater die Kontinente und die Gestirne erklärt. Das Holz glänzte. Ob Henriette sie noch einmal poliert hatte? Die Sessel des Herrenzimmers und auch die Einrichtung des Behandlungsraumes hatten einen neuen Besitzer gefunden. Den jungen Arzt aus der St. Jones Street. Mary seufzte. Ob er die Wunderkammer schon inspiziert hatte? Ihr Magen zog sich zusammen.
Denk nicht darüber nach
, beschwor sie sich.
Du kannst den Lauf der Dinge ohnehin nicht mehr aufhalten.
    Irgendwann verließ Henriette ihren Posten und kam auf sie zu. Redlich bemühte sie sich um einen sachlichen Tonfall, aber Mary sah die Flecken. Sah die roten Inseln, die sich auf der weißen Haut am Hals der Tante abzeichneten, während diese sie aufforderte, noch Möbelstücke, die ihr wichtig waren, auszusuchen. Sie schwieg und zählte dreizehn Flecken, bis Henriette aufgab und sich zurückzog.
    Mary wandte den Kopf ab.
Nur den Apothekergarten, den lassen sie,
dachte sie.
Nutzloses Grünzeug, das reißen sie nicht aus. Das wird erst der nächste Besitzer machen.
Wehmütig betrachtete sie das farbenprächtige Pflanzenmeer, das im hinteren Teil des Grundstücks angelegt worden war. Sechs Felder, umsäumt von kniehohenBuchsbäumchen, durch drei Kreuzwege voneinander getrennt. Sechs Felder, die nach der Indikation der Heilpflanzen bestellt waren. Aber nicht nur die Sammelleidenschaft des Vaters hatte zum Artenreichtum des Gartens beigetragen. Häufig hatten die Bauern unter den Patienten dem Arzt, der die beschwerliche Fahrt in die Dörfer auf sich genommen hatte, aus Dank Ringelblumen, Johanniskraut, Rübengewächse, Kamille, Minze oder auch ausgefallenere Pflanzen mitgegeben.
    Später saßen sie, erinnerte Mary sich, gemeinsam über den Zweigen, rochen an den Blüten und zerrieben die Blätter zwischen den Fingern. Jede Beobachtung notierten sie sich, und gelegentlich diktierte der Vater Mary noch ergänzende Aussagen der Bauern.
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