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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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müsse man eine Neigung für das Prozessuale haben. Er hatte absichtlich das distanzierende Wort gewählt. Ich ertrage keine Wiederholungen. Und Kindheit ist eine Dauerwiederholung, das ist das Prinzip des Lernens. Hör dir an, wie sie die Sprache lernen, la, la, lo, lo, wie sie versuchen, sich aufzurichten, wie sie hinfallen, wie sie fragen, immer wieder dieselben Fragen. Ich habe mich bei Sabrina zusammennehmen müssen, nein, zusammenreißen, um geduldig zu bleiben. Wenn ich gleich Großvater werden könnte, dann ja. Hin und wieder sind sie reizend, witzig, so neu der Blick auf die Dinge, staunenswert ihre Reaktionen, wie sie Fernes und Nahes kombinieren. Die Ente schwimmt, der Hund läuft, plötzlich laufen die Enten, also ein Quakwauwau. Aber das geschieht nur hin und wieder. Nein, sagte er, auf keinen Fall alles noch mal durchmachen. Nein.
    Die Antwort war ein Wutausbruch: Egoist, du willst nur deine Lust, deinen Spaß, aber ich, mein Alter, dreiunddreißig, das sprach sie noch korrekt aus, dann verhaspelte sie sich beim Wort biologische Uhr, und als sie biologisch wiederholte und sich abermals versprach, warf sie mit den auf dem Küchentisch liegenden Äpfeln nach ihm. Ihre wütenden polnischen Flüche, jedenfalls nahm er an, dass es Flüche waren, verstand er nicht, ging, die Hände vor das Gesicht haltend, auf sie zu und umarmte sie.
    Später dachte er, wie doch ein derartiger Zufall, dass Äpfel auf dem Tisch liegen, eine tiefere Bedeutung schaffen kann, und musste jedes Mal wieder, wenn er daran zurückdachte, lachen, wie sie zuerst versuchte, sich ihm zu entwinden, dann aber ihn umwunden hatte und sie ins Bett gegangen waren.
    Sie hatte dann noch gedroht, sich heimlich die Spirale entfernen zu lassen, ihm nichts zu sagen, es darauf ankommen zu lassen. Schließlich bestimme sie über das Leben. Ja, sie hatte das Leben gesagt.
    Vielleicht hatte sie sich tatsächlich gleich damals die Spirale – wie das klang – entfernen lassen, sie, die so lustvoll empfängniswillig war. Vielleicht aber hatte es, also das Temperaturmessen, Beischlafen, Beinehochheben bis jetzt gedauert, denn sie war mit Ewald, auch wenn der oft auf Reisen war, immerhin schon fünf Jahre zusammen.

    An dem vereinbarten Samstag hatten sich Selma und Eschenbach mit Anna und Ewald in dem chinesischen Restaurant getroffen. Die Wände waren mit Fotos aus der Zeit der Kulturrevolution geschmückt. Eine über die ganze Längswand reichende Panorama-Fotografie zeigte die Belegschaft eines Energiebetriebs. Vielleicht tausend, vielleicht zweitausend, vielleicht auch noch mehr Chinesen, gestochen scharf in blauer Arbeitskleidung. In der Mitte der Direktor und die leitenden Ingenieure, deren Kleidung sich durch weiße Hemden ein wenig zivil von dem Einheitsblau abhob. Aber allein, dass sie in der Mitte saßen, war ein Zeichen, dass die Aufnahme nicht auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution gemacht worden war.
    Ewald wurde wortreich begrüßt, er hatte hier hin und wieder mit Geschäftspartnern gegessen. Alles sorgfältig ausgewählt, Gemüse, Fleisch und Fisch frisch vom Markt, die Nudeln wurden im Hause gemacht. An dem Abend trug Anna ein schlichtes graues Seidenkleid, das aber in einer erstaunlichen Weise changierte und jede Bewegung ihres Körpers mit Glanz umspielte. Sie setzte sich neben Eschenbach, das Kleid rutschte ein wenig hoch, sie zupfte nicht mädchenhaft daran herum, beschenkte ihn, so deutete er das, mit dem Anblick ihrer Knie.
    Selma in einer türkisen, mit kleinen weißen Blümchen gemusterten Bluse saß neben Ewald, dessen graphitgrauer Anzug, zu dem er keine Krawatte trug, sichtlich maßgeschneidert war, die Knopflöcher am Ärmel waren, wie Eschenbach mit dem von Pierre Bourdieus »Die feinen Unterschiede« geschulten Blick sah, durchknöpfbar. Eschenbach hatte sich jedem Modetrend entzogen, trug, wie er es nannte, seine Uniform, Polohemden in Dunkelblau zu Jeans und grauen Pullovern oder einem knappen schwarzen Sakko. Er musste nie lange darüber nachdenken, was er anzog, und nichts musste gebügelt werden. Nur hin und wieder und nur Selma zuliebe zog er ein weißes Hemd an. Selma liebte, während er unruhig dastand, das Aufknöpfen der Hemden.

    Das Publikum im chinesischen Restaurant war, und das machte, wie Ewald angekündigt hatte, den Reiz aus, gemischt, junge und alte Leute, Rentner aus der Nachbarschaft, einige Chinesen und Gäste wie sie, die beiden Paare, die aus anderen Stadtteilen gekommen waren. Einer der Köche,
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