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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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wandelnden Schimmer auf dem Meer entgegen, das sich plötzlich mit dem ersten Auftauchen des Lichts rot färbte, um wenig später in ein helles Gleißen überzugehen.
    Selma hatte, wenn sie eben zusammen gewesen waren, die Angewohnheit zu fragen, ob er glücklich sei. Eine Frage, die aus ihrem Mund mit diesem eben noch hörbaren, nach Osten weisenden Klang der spät erlernten Sprache nichts Peinliches hatte, ja dem Wort eine erstaunliche Kraft zurückgab. Und er sagte dann jedes Mal Ja, was nicht falsch war.
    Jetzt, die Sonne war eben über dem Meer aufgegangen und lag wie das goldene Vlies auf dem Wasser, konnte er es ganz eins mit sich sagen: Ja.
    Er ging wie jeden Morgen den Strand entlang, suchte vom Meer zu bizarren Formen abgeschliffene Äste und Wurzeln und trug die ungewöhnlichen Stücke zurück in ihr Holzhaus.
    Eine kleine schneeweiße, trichterförmige, Meeresschnecke, am oberen Rand von einem schmalen schwarzen Streifen gesäumt, schenkte er Selma.
    Später, zurück in der Stadt, im Winter, fasste sie die Schnecke kunstvoll schlicht in Silber und trug sie als Anhänger, ihr Glücksbringer.
    Dein Einhorn aus dem Meer.

    Getroffen hatte er sie an einer Straßenkreuzung, an einer Ampel, die rot zeigte. Er stand neben anderen Passanten und wartete und sah den Blick einer jungen Frau, nicht auf sich, sondern auf das Buch gerichtet, das er in der Hand hielt und kurz zuvor an einem der Stände vor der Humboldt-Universität gekauft hatte. Ein Buch, das unter den sonstigen Schmökern und Taschenbüchern mit seiner eigenwillig gestalteten goldenen Titelschrift Luther und dem Untertitel Gestalt und Symbol auffiel. Fünf Euro hatte er dafür bezahlt, spontan nach einer plötzlichen Eingebung, die ihm sagte, dieses so kunstvoll gestaltete Buch aus dem Jahr 1925 sei auf dem Tisch den hin und wieder griesigen Schneeschauern preisgegeben und werde verderben. Ja, er hatte den Eindruck, es friere. Der Verkäufer hatte diesen Teil des Tischs mit den ihm wohl weniger wertvoll erscheinenden Büchern nicht mit der Plastikplane abgedeckt.
    Als er ihren neugierigen Blick bemerkte, hielt er der jungen Frau, damit sie den Titel richtig lesen könne, das Buch hin. Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie das Buch, und es schien ihm, es sei in ihrer roten Wollhand jetzt tatsächlich geborgen.
    Luther, natürlich, den kannte sie, aber nicht den Autor Gerhard Ritter. Ich bin Katholikin, sagte sie entschuldigend.
    Den muss man nicht kennen, heute nicht mehr.
    Inzwischen war die Ampel auf Grün umgesprungen. Sie überquerten die Straße und gingen noch ein Stück gemeinsam weiter, und sie sagte, ein schönes Buch, gut, dass Sie es in Ihre Obhut genommen haben. Das altertümliche Wort Obhut bekam durch ihren leicht fremden Akzent eine überraschende Bedeutung.
    Er hatte sie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Sie kramte in ihrer Ledertasche, ein Kramen, wie er es von so vielen Frauen kannte, zog schließlich mit den Zähnen den roten Wollhandschuh aus, suchte weiter und gab ihm eine Visitenkarte. Ein einfaches Papier, darauf ihr Name und das Wort Schmuckdesignerin. Sie nannte ihm den Platz, wo sie mittwochs und samstags stand und ihren Schmuck anbot.
    Das war ihm aufgefallen, wie selbstverständlich sie von dieser Verkaufsarbeit sprach, ohne jeden Versuch, diese Tätigkeit zu überhöhen. Ihre Werkstatt betrieb sie in einer Ladenwohnung. Eines der in Berlin so häufig anzutreffenden kleinen Geschäfte, hinter denen noch zwei Zimmer lagen. Geschäfte, in denen früher Molkereiprodukte, Kolonialwaren, Textilien verkauft wurden. Viele waren mit dem Aufkommen der Supermärkte in Wohnungen umgewandelt worden. Ihre Werkstatt lag in einer Nebenstraße, und er war abends hingefahren und hatte sich das Schaufenster angesehen. Zwei, drei Silberbecher lagen darin, vier, fünf Armreifen, dem Hopi-Schmuck nachempfunden, zwei Broschen, die eine zeigte durch aufgetragenes Gold eine stilisierte Hügellandschaft mit zwei Zypressen.
    Am folgenden Samstag, es war ein sonniger, kalter Vormittag, war er zum Winterfeldt-Markt gefahren und schlenderte an den Ständen mit all den Angeboten, dem Gemüse und Obst, dem Käse, den Back- und Wurstwaren vorbei. Kleider, Mäntel, Blusen und Pullover lagen zum Verkauf da, Modelle, die mit Gold- und Silberfäden durchwirkt waren, aber auch Kleidungsstücke, die er zuletzt an seiner Großmutter gesehen hatte, beutelartige Schlüpfer, gewaltige BH-Schalen, Breitbandträger mit Krallverschlüssen. Türkinnen mit
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