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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition)
Autoren: Uwe Timm
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vermutlich der Sohn des Chinesen, zeigte den Gästen die Vorbereitung des Nudelteigs. Eine Einlage wie im Zirkus: Wie er mit äußerster Perfektion den Teig, eine dicke Wurst, lang zog, sie sodann mit den Fingern teilte, herumwirbelte, sodass die Teigwurst länger, immer länger wurde und bis in Selmas Nähe kam, nochmals näher kam, so dass Selma sich zurücklehnen musste, dann wurde die Wurst abgefangen, zusammengelegt, erneut geteilt, zu einem Zopf geflochten, um dann wieder in die Länge gezogen zu werden.
    Sie hatten sich einen französischen Wein, den einzigen auf der Karte, bestellt – nach einer kurzen Diskussion über das Zahlen. Ewald und Eschenbach hatten jeweils darauf bestanden zu zahlen, worauf sich Selma einmischte, sagte, sie wolle selbst zahlen, so kam es zu einer Asymmetrie. Man einigte sich, jedes Paar solle die Hälfte zahlen, wie die Paare das dann untereinander aufteilten, sei deren Sache. Sie hatten die von Ewald telefonisch vorbestellte Pekingente gegessen und den Rotwein getrunken. Saßen inmitten der anderen Gäste, die immer wieder zu ihnen herübersahen, weil sie so oft und laut lachten, tranken zum Abschluss einen Schnaps mit unvorstellbaren siebzig Prozent, tranken auf ex, sahen einander in die verzogenen Gesichter und lachten. Fassten sich an den Händen und sagten von da an du.
    Selma war es, die noch eine zweite Runde bestellte, nachdem der chinesische Teigkünstler erzählt hatte, der Schnaps sei gut für die Liebe, er stimuliere, was sie bei seiner piepsenden Aussprache erst nach zweimaliger Wiederholung verstanden hatten. Sie tranken den Schnaps und schüttelten sich demonstrativ.
    Ewald und Eschenbach zogen die Jacken aus.
    Derart heiß sei ihm geworden, sagte Ewald, und: Ihr Glücklichen, in Kleid und Blümchenbluse.
    Anna begann, Wangen und Stirn glühten, von der Antarktis und der Bedeutung hochprozentigen Rums zu erzählen. Sie lese gerade eine Biografie von Ernest Shackleton. Was für ein Mann! Der wollte 1916 die Antarktis durchqueren, die Zähigkeit, mit der er das alles betrieben habe, die ersten beiden Expeditionen, dann die Reise mit der Endurance , das Schiff bleibt im Packeis stecken, wird zerquetscht, die Mannschaft campiert auf einer großen Eisscholle, allein das, wie Shackleton seine Leute ausgewählt habe, nicht nur nach Fachkenntnissen, den Physiker James hat er gefragt, ob er singen könne. Und als der dann sang, hat er ihn genommen. Die Bedeutung des Singens im Eis. Dann die Fahrt von Elephant Island nach Südgeorgien, in einem Rettungsboot, 800 Seemeilen, Schnee, Sturm, Wellen, Brecher. Shackleton, der einem Gefährten, der die Handschuhe verloren hat, die eigenen überlässt. Seine Finger erfrieren. Diese Großherzigkeit. Aber auch die Härte. Den Schiffszimmermann, Harry McNish, der Shackleton einmal widersprochen hatte, strafte er für alle Zeit durch Missachtung. In dieser Kälte, in dieser Ödnis, in dieser Einsamkeit – Anna glühte vom siebzigprozentigen Schnaps und vom Erzählen – memorierte Shackleton Gedichte von John Keats und Robert Browning.
    Ihr versteht, unterbrach Ewald, dass ich allmählich eifersüchtig auf diesen Ernest bin, der mich nun schon seit Tagen begleitet.
    Und dann, fuhr Anna unbeirrt fort, diese unglaubliche Leistung, die letzte Anstrengung, der Fußmarsch über das Gebirge in Südgeorgien zur Walfangstation. Eine körperliche Leistung, die ins Spirituelle geht.
    Da rezitierte, als sei er aufgerufen worden, Eschenbach:

Who is the third who walks always beside you?
When I count, there are only you and I together
But when I look ahead up the white road
There is always another one walking beside you
Gliding wrapt in a brown mantle, hooded
I do not know whether a man or a woman
But who is that on the other side of you?
    T. S. Eliot, sagte Anna und sah Eschenbach an, als habe sie in ihm jetzt noch einen anderen entdeckt.
    Ja.
    Er habe The Waste Land einmal auswendig gelernt, und jetzt sei diese Stelle dank des höllischen chinesischen Schnapses dem Fluss Lethe entrissen worden. Als Schüler habe er, The Waste Land im Kopf, Eliot in London besucht, wobei er bis heute nicht wisse, ob es Eliot gewesen sei.
    Es war eine Zeit, in der dieser Glaube vorherrschte, das literarische Werk und die Person, die es geschrieben hat, hingen eng zusammen.
    Eschenbach hatte auf einer Klassenreise nach London T. S. Eliot im Telefonbuch gesucht und den Namen auch gefunden. War zu der angegebenen Straße gefahren. Nach zweimaligem Klingeln wurde die
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