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Villa des Schweigens

Villa des Schweigens

Titel: Villa des Schweigens
Autoren: Ulrike Rylance
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streifte sie dabei einen Papierstapel, etwas rutschte heraus und segelte auf den Boden. Ein Löschblatt. Wer benutzte denn heutzutage noch ein Löschblatt? Ich blickte darauf – erst ungläubig, dann mit wachsendem Entsetzen. Claire hatte also auch mit dem klecksenden Füller geschrieben. Die Adresse an Julius' Pinnwand? Aber wir haben ihn gerettet, wusstest du das? Die Adresse der Drogenberatungsstelle. Stefan hatte es mir selbst erzählt, dass Claire die Adresse herausgesucht hatte. Sie hatte sie für Julius aufgeschrieben. Aber es war nicht nur das. Als Kind hatte ich oft genug ein Löschblatt benutzt. Und deshalb hatte ich auch keine Mühe, die Spiegelschrift-Abdrücke weiter unten darauf zu entziffern. »Mädch ... einen anderen erwä ... wiede ... den ersten besten ... Geschichte ... bricht d ... Herz entzw ... Das Heine-Gedicht.
    Es hatte verdammt echt wie Laurens Handschrift ausgesehen. Aber Claire hatte den Text geschrieben.
    Ich rutschte auf den Teppich, unfähig, mich noch länger aufrecht zu halten.
    Claire stierte durch mich hindurch. »Und ich dumme Kuh habe geglaubt, dass er meinetwegen mit Lauren Schluss gemacht hat!« Sie schüttelte die Tonicflasche ein bisschen. »Was in dem Drink ist? Ist doch unwichtig. Du weißt doch, man kann heutzutage alles beschaffen, wenn man die richtigen Leute kennt.«
    Bei den letzten Worten machte sie den Tonfall desHauptkommissars nach. Dann betrachtete sie mich mit der kalten Neugier eines Wissenschaftlers, der gerade im Begriff ist, eine Maus zu sezieren.
    »Ich hab doch noch was für dich«, sagte sie, griff in ein Fach und holte eine Plastiktüte heraus, deren Inhalt sie auf den Boden schüttete. Es waren lauter bunte Stofffetzen und ich brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was es war. Mein Top. Mein bestes, schönstes, teuerstes. Claire griff sich einen Schnipsel und hob ihn zwischen zwei Fingern hoch wie einen Wurm. »Du brauchst das Top zwar jetzt nicht mehr, aber zeigen wollte ich es dir trotzdem, wäre doch schade drum, nicht? Wollte ich dir zum Abschied schenken. Aber damit ist es ja nicht getan. Stefan würde dir wahrscheinlich bis ans Ende der Welt folgen. Zeit für Plan B.«
    Panik stieg in mir auf. Du brauchst das Top zwar jetzt nicht mehr? Oh Gott, dachte ich. Bitte nicht. Bitte nicht!
    Ein befriedigter Ausdruck glitt über Claires Gesicht.
    »Angst macht dich hässlich«, sagte sie.

26. Kapitel
    Ich musste sekundenlang das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, was ich sah, war Claires Ohr direkt vor meinem Gesicht. Ihre schwarz-blond gestreiften Haare. Wie ein Raubtier. Sie hatte mich hochgezerrt und ich hielt mich verzweifelt an ihr fest, obwohl ich doch nichts sehnlicher wollte, als von ihr wegzukommen. Aber es war, als hätte sich der Boden unter meinen Füßen in Gelee verwandelt. Ich konnte einfach nicht mehr stehen.
    »Na, na«, sagte Claire. »Nicht so klammern.«
    Es war grotesk. Abartig. Sie sprach mit mir wie mit einem Kleinkind. Schleifte mich dabei mehr oder weniger zu ihrer Tür, in den Flur hinaus. Angst raste durch meinen ganzen Körper, ein metallischer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Blut. Ich hatte mir vor Stress auf die Zunge gebissen. Ich musste Claire zur Vernunft bringen.
    »Bitte ...«, versuchte ich es. Die Worte quollen in meinem Mund auf wie Brei. »Bitte loslassen.«
    »Loslassen? Wohl kaum. Dann klatschst du mir mitten in den Flur wie Lauren. Du schaffst das schon noch in dein Zimmer und dann kannst du schlafen. Wie ein Stein.« Sie kicherte.
    Wir erreichten mein Zimmer, gegen meinen Willen stolperte ich mit hinein, als ob der vertraute Anblick meiner Sachen mir irgendwie Schutz bieten könnte. Claire gab mir einen Stoß, sodass ich mit dem Gesicht nach unten auf mein Bett fiel. Ich schnappte nach Luft. Bildete ich mir das nur ein oder wurde es immer schwieriger, Luft zu holen? Hatte sie mir dasselbe Zeug gegeben wie Lauren? Würde ich etwa ersticken? Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Mit größter Anstrengung drehte ich mich auf die Seite. Claire marschierte durch mein Zimmer zu den Flügeltüren. Im Garten saß Julius an dem Steintisch und las ein Buch.
    »Hoppla«, sagte sie. »Da sitzt ja Julius, ich dachte, der wäre weg. Da machen wir mal lieber die Vorhänge zu, damit du nicht gestört wirst.«
    Mit leisem Rascheln glitt erst der linke, dann der rechte Vorhang zu.
    »Julius!« Meine Stimme klang leise, viel zu schwach. Sie drang nicht mal bis ans Ende des Zimmers.
    »Hast du was
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