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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Autoren: Boris Koch
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wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, was ich nicht schon gedacht hatte. Zu vieles jagte durch meinen Kopf, kein einziges Wort schien angemessen. Wie sollte ich da einen ganzen Satz bilden? Zwei sogar? Wahrscheinlich hätte er über mein Grübeln gelacht, wie er es immer getan hatte, und vielleicht hätte ich ihm genau diesen einen Lacher mit auf den Weg geben sollen. Aber in dem Moment ging es um die Wahrheit, um das, was er mir bedeutet hat, und das war bestimmt kein Witz auf meine Kosten. Warum hast du mir das mit deinen Eltern verschwiegen? Auch das brachte ich nicht über die Lippen, auch nicht das Wort Liebe, nicht gegenüber einem Jungen. Also grub ich meine Hand in den Beutel und sagte mit rauer Stimme: »Du warst mein Bruder und wirst es immer sein.«
    Die Asche war leichter und feiner, als ich mich erinnerte, so staubig und wenig, was von einem blieb. Ich schloss die Hand fest, ging in die Knie und ließ die Asche frei, wie ein kleines unbeholfenes Tier, das zum ersten Mal außerhalb des Gatters ausgesetzt wird. Die Reste, die auf der Haut kleben blieben, ließ ich von den Wellen fortspülen, er sollte ganz ins Meer gehen, wie er es sich gewünscht hatte.
    Maik nahm sich die Asche und schwieg lange. Dann sagte er: »Ich werde dich tierisch vermissen, verrückter Hund, aber wenn sich sonst keiner traut, sag’s ich: Warum bist du blöder Idiot ohne Licht gefahren? Ich hab’s dir gesagt, und ich fühl mich nicht schuldig, nicht mehr. Das kannst du vergessen. Und jetzt treib in jeden Winkel der Welt. Ich lass dir ordentlich Vorsprung, aber in ein paar Jahrzehnten komm ich nach, und dann hol ich dich immer noch ein.« Mit einer schnellen Bewegung warf er die Asche in den Wind, ließ sie von ihm hinauswehen.
    Ich presste vorsichtshalber die Lippen zusammen – auf keinen Fall wollte ich etwas von Christoph schlucken. Doch der Wind drehte nicht, sondern trug die Asche von uns fort.
    Selina nahm mein Handy und ging auf YouTube. Dort gab sie Don’t Fear the Reaper ein, und der Song, den Christoph sich für seine Beerdigung gewünscht hatte, schepperte in die Nacht.
    Gemeinsam hielten wir den Beutel und kippten den Rest ins Meer. Wir blickten auf die schwarzen Wellen hinaus, und ganz langsam begannen wir den Song mitzusummen. Keiner kannte den Text, aber es gab genug lalala, und der Refrain wurde oft wiederholt, wie ein Mantra: Don’t fear the Reaper. Lauter und lauter wurden wir, ich sang so falsch wie immer, Maik und Selina trafen den Ton, und Lena klang wunderschön, eine klare, helle zweite Stimme hoch über dem Sänger. Sie zog uns alle mit, und als der Song vorbei war, sagte Selina leise: »Danke.«
    »Deine alte Band spinnt«, sagte ich. Mehr nicht, ich hatte einen Kloß im Hals.
    Wir tranken den Wein aus dem mitgebrachten Kanister und schütteten einen kräftigen Schluck in die Wellen. Für Christoph.
    »Jetzt holt ihn keiner mehr zurück«, sagte Maik. »Keiner sperrt ihn wieder ein.«
    Das klang, als wäre er frei. Niemand sagte das, doch keiner widersprach Maik.
    Dann paddelten wir an Land und brachten das Boot in den Garten zurück. Hinter der Terrassentür brannte kein Licht mehr, die Eimer lagen noch immer herum. Wir fuhren ein Stück aus der Siedlung hinaus und legten uns an ein verlassenes Ufer. Wir wollten Christoph noch einmal so nahe wie möglich sein.

35
    Die Rückfahrt war seltsam und schweigsam. Ich rief bei meinen Eltern an und sagte, alles sei gut und das Haus stehe noch, obwohl ich das natürlich nicht wissen konnte. Knolle und Ralph hatten sich lange nicht gemeldet. Maik lieh sich mein Handy und rief bei seinen Eltern an, nur Selina ließ ihre weiter zappeln, auch wenn sie kurz davor war, sich zu melden.
    »Um rauszufinden, ob sie uns die Polizei auf den Hals gehetzt haben«, sagte sie, aber dann wählte sie doch nicht.
    Wir fuhren fast denselben Weg zurück, nur den Schlenker nach Paris sparten wir uns. Obwohl wir noch genug Äpfel hatten, klauten wir von unserer Plantage eine Handvoll und tranken auf den verrückten alten Bauern. Um Fabiennes Dorf machten wir einen Bogen, da ich immer noch nicht wusste, wie viele Brüder sie hatte.
    Beim Fahren hielt ich mich an Lena fest, ohne sie zärtlich oder fordernd zu berühren. An meinen Händen wuchsen große weiße Blasen, und ich wusste nicht, woran ich war. Am Meer hatte sie ihre Liebe zu Christoph gestanden, und ich wollte dagegen nicht ankämpfen. Auch wenn ich Selina nichts schuldete, ich wollte ihr nicht wehtun, nicht, wenn ich keine
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