Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind

Titel: Vielleicht will der Kapitalismus gar nicht, dass wir gluecklich sind
Autoren: Max. A Hoefer
Vom Netzwerk:
illustriert übrigens die Geschichte von John Harvey Kellogg, einem Sieben-Tage-Adventisten, der in einem Sanatorium vegetarische Ernährung mit Glaubensgrundsätzen verband: Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Tabak und Kaffee. Kellogg brachte in Proper Diet for Man und in Plain Facts about Sexual Life die Diät und die sexuelle Enthaltsamkeit zusammen. Seine Ehe hatte er nie sexuell vollzogen, begann aber jeden Tag mit einem Einlauf. Er lehnte die Masturbation ab und empfahl aus diesem Grund die routinemäßige Beschneidung kleiner Jungen, eine Praxis, die in den 1990er Jahren fast 80 Prozent der Amerikaner übernommen hatten. Wunderbar grotesk verfilmt von Alan Parker in Willkommen in Wellville (Roman von T. C. Boyle). (Kellogg 1874/1877)
    34 Das Schlankheitsideal spiegelt den alten puritanischen Anspruch auf harte Selbstdisziplin und Körperkontrolle wider. Um diesem Ideal zu entsprechen, nehmen die Menschen unheimliche Torturen auf sich. Es ist ein einziger Feldzug gegen den eigenen Körper: Die Bodybuilder ruinieren ihre Gesundheit bis zur Impotenz mit Steroiden, Magermodels hungern bis zur Erschöpfung, die Fitness-Ideale verlangen Kasteiung, Bulimie und Magersucht sind zunehmende Krankheiten vor allem junger Frauen. Mit dem Nervengift Botox glätten Mittvierziger ihre Falten. Fettabsaugungen und große Schönheitsoperationen sind massive Körperverletzungen, in denen ein Selbsthass zum Ausdruck kommt: Die Patienten sehen danach aus wie nach einem schweren Autounfall. Warum wollen sie um jeden Preis Vollkommenheitsidealen genügen? Warum fühlen sie sich in ihrem Körper nicht geliebt?

Das gute Leben
    Seit Herbst 2012 gibt es in Spanien keine Siesta mehr. Die Regierung musste sie auf Druck der Euro-Troika abschaffen, denn »Faulenzen«, auch in brütender Mittagshitze, kann sich das Land mitten im Staatsbankrott nicht mehr leisten. Jahrhundertelang hielten die Südländer ab der sechsten Stunde nach Sonnenaufgang (sexta hora) zwischen 12 und 16 Uhr ihre Mittagspause. Sie kamen vom Feld und aus den Geschäften nach Hause und ruhten sich aus, sie aßen miteinander, unterhielten sich im Kreise von Familie und Freunden, machten sich keinen Stress. Das Nickerchen war ihnen heilig. Nun ist es mit der Idylle vorbei. Wieso eigentlich müssen die Spanier ihre Siesta aufgeben? Vor hundert Jahren verdienten sie zwanzig Mal weniger als jetzt. Die Menschen auf dem Land waren arm, und dennoch nahmen sie sich die Zeit für eine Ruhepause. Könnten sich die Spanier ihre Siesta heute nicht um ein Vielfaches eher leisten als damals?
    An den Staatsschulden liegt es nicht wirklich, denn die Siesta wurde schon einmal beschnitten: 2005 hatte die Regierung Zapatero bereits für Angestellte des öffentlichen Dienstes die offizielle Siesta gestrichen. Die Zeit müsse im globalen Turbokapitalismus produktiver genutzt werden, hieß es. Dass überhaupt in der Hitze gearbeitet werden konnte, lag an den sich immer weiter verbreitenden Klimaanlagen, die ganz nebenbei zu einer Steigerung des Geräte- und Stromverbrauchs führten. Die Regierung erwartet nun, dass alle Spanier künftig durcharbeiten und in der kurzen Mittagspause mehr shoppen und in die Restaurants gehen, das erhöht den Konsum. Mehr Arbeit und mehr Konsum, das tauschen die Spanier gegen ihre Siesta. Es ist ein schlechter Tausch, und sie demonstrierten auch dagegen, aber vergebens.
    Die Spanier sehen im Verlust ihrer Tradition ein deutsches Diktat. Falsch ist dieser Eindruck nicht, denn die Deutschen verlangen für ihr Geld zur Euro-Rettung, dass die Südeuropäer sparen und mehr arbeiten. Sie sollen zu preußischen Tugenden bekehrt werden. Die kulturelle Zumutung, die darin liegt, wollen wir nicht verstehen, und die Euro-Troika verhält sich nicht besser. Als ob es nichts Klügeres gäbe, als für die Rettung der Banken seine Siesta zu opfern, was genau genommen heißt: Der Spanier verliert das gemeinsame Essen mit der Familie, seine Ruhe, einen Teil des guten Lebens.
    Das gute Leben ist zu einem Kulturkampf geworden. Wir spüren es, wenn wir auf den »Nord-Süd-Konflikt« innerhalb der Europäischen Union blicken: hier die protestantisch-puritanischen Nordstaaten, die ihrer säkularisierten Religion des »Immer-mehr« huldigen und sie überall installieren wollen, dort die katholischen oder orthodoxen »Südländer«, bei denen sich jenseits technokratischer Eliten noch viel vom guten Leben erhalten hat. Wir müssen uns nämlich eines klar machen: Es geht nicht nur ums Geld.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher