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Vertraute Schatten

Vertraute Schatten

Titel: Vertraute Schatten
Autoren: Kendra Leigh Castle
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nachsichtiges Lächeln sah, hätte sie am liebsten geschrien.
    »Selbstverständlich bist du das. Vermutlich schon sehr bald. Aber das hängt nicht nur von mir ab. Aufgrund der Umstände deiner Verwandlung hegt man gewisse Zweifel, ob du wirklich in der Lage bist, dich nicht einzumischen.«
    »Das war doch vor Hunderten von Jahren«, widersprach Ariane, und diesmal konnte sie die Wut in ihrer Stimme nicht völlig überspielen. »Ich werde dafür bestraft, dass ich bei meiner Verwandlung aufgewühlt war?«
    Sariels Augen verdunkelten sich. »Aufgewühlt ist das falsche Wort, wie du nur zu gut weißt. Eine traumatische Verwandlung hängt einem nach, Ariane, manchmal sogar für immer. Glaubst du wirklich, du könntest ruhig dastehen und mit ansehen, was dir und deiner Familie passiert ist? Selbst derjenige, der dich verwandelt hat, war dazu nicht in der Lage, sondern ergab sich seiner Schwäche.«
    »Derjenige, der mich verwandelt hat …«
    Sariel hob die Hand, um sie am Weiterreden zu hindern. »Du weißt, dass ich dir nicht sagen werde, wer das war. Er bat darum, dass die Schande sein Geheimnis bleibt. Das ist besser so, für euch beide. Für uns alle.«
    Ariane versteifte sich. Sie konnte den Knoten spüren, der sich in ihrem Magen bildete, wie immer bei solchen Gesprächen … und davon hatte es schon viele gegeben. Sie konnte sich so gut wie gar nicht an ihre Verwandlung erinnern, und aus der Zeit davor waren ihr nur wenige kurze Eindrücke geblieben, Eindrücke voller Grauen. Blut, Rauch, grässliches Gelächter … geliebte Stimmen, die gellend schrien. Dann starke Arme, eine leise Stimme. Dunkelheit.
    Der größte Teil ihres sterblichen Lebens blieb ihr ein Rätsel. Ihre Erinnerung setzte erst bei jenen Wochen wieder ein, in denen sie, eingesperrt in ihren Gemächern, so lange und heftig geweint hatte, dass ihre Tränen sich in Blut verwandelt hatten. Warum sie so untröstlich gewesen war, hätte sie nicht sagen können. Und niemand wollte ihr auch nur das Geringste über ihr Leben als Sterbliche erzählen. Allein die ganz Alten wussten, wer sie verwandelt hatte, doch darüber sprachen sie nicht.
    Manchmal fragte sie sich, ob derjenige für das, was er getan hatte, umgebracht worden war.
    »Das haben wir alle durchlebt, dieses Bedürfnis, die Dinge nach unseren Wünschen zu formen, anstatt zuzuschauen, wie sie sich entwickeln«, belehrte Sariel sie. Sein Ton war sanft und doch auf jene für die Ältesten so typische Art herablassend. »Aber das ist nicht die Rolle, die uns zukommt. Wir müssen uns von unseren Instinkten freimachen, das Menschliche in uns hinter uns lassen. So zu leben, wie wir das tun, und gleichzeitig etwas anderes leben zu wollen ist Irrsinn. Und doch sehe ich dich, Ariane, nach all den Jahren noch immer mit dem kämpfen, was du einmal warst.«
    »Aber Sam hat gesagt –«
    »Sein Name ist Sammael,
d’akara
. Erweise seinem Namen den Respekt, der ihm gebührt.«
    Der Befehlston, in dem Sariel das sagte, brachte Ariane zum Schweigen. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren, und sie hätte es gar nicht erst versuchen sollen. Er forderte Respekt ein, aber sie nannte er
d’akara
, Kleines, als wäre sie ein Kind. Sie war schnell und stark. Sie sprach mehrere Sprachen und kannte sich mit Musik, Philosophie und Kunst aus. Sie war eine geschicktere Kämpferin als die meisten ihrer Blutsbrüder und -schwestern. Und wozu hatte sie all das gelernt? Um hier rumzuhocken und zu vermodern, nur weil sie
Gefühle
hatte?
    Nein. Dieses Mal nicht.
    »Dann eben Sammael.« Sie versuchte, sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen. »Er hat gesagt, es sei wichtig, unsere Gefühle für die Menschen nicht zu vergessen. Dass wir sie nicht nur beobachten, sondern auch verstehen sollten. Er ist doch auch einer von den Ältesten. Stimmst du in dem Punkt denn nicht mit ihm überein?«
    Sariels Gesichtsausdruck verwandelte sich von einem Moment auf den anderen von gespieltem Wohlwollen in offensichtliche Abneigung. »Sammael hat eine … unnatürliche Vorliebe für Menschen. Schon immer. Ich habe ihn gewähren lassen, aber die Menschheit ist wie eine Horde streitsüchtiger Affen. Sie zu verstehen ist einfach. Ich habe sie immer für einen mit Mängeln behafteten Entwurf gehalten.« Ein kaltes Lächeln huschte über sein Gesicht.
    Ariane wusste nie, wie sie damit umgehen sollte, wenn er solche Reden schwang. Es war, als wäre er nie ein Mensch gewesen. Aber vielleicht lag sein Menschsein schon so lange zurück, dass er
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