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Versprechen der Nacht

Versprechen der Nacht

Titel: Versprechen der Nacht
Autoren: Lara Adrian
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für diesen Job bekommen hatte. Instruktionen, die mein Verstand und meine Erfahrung mir dringend zu befolgen rieten. Aber da ertönte unter mir wieder ein tiefes, lungenzerfetzendes Husten, und weder Logik noch Erfahrung hatten mich auf die Besorgnis vorbereitet, die ich in diesem Augenblick seinetwegen empfand.
    Ich bückte mich und hielt die offene Wasserflasche an die breiteste Spalte an der Kistenoberseite. »Los, trink.«
    Ich dachte, er würde sich wieder weigern, aber dann hörte ich, wie er sich bewegte – spürte, wie er näher kam. Er sah mir in die Augen. Ich spürte, wie ein warmer Atemhauch durch den Spalt und über meine Hand strich. Weiße Zähne schimmerten, als er nahe an der Spalte seine Lippen öffnete und darauf wartete, dass ich ihm Wasser in den Mund goss.
    Ich gab ihm zunächst nur ein wenig, wollte ihn nicht drängen, bevor er bereit war. Seine Lippen schlossen sich mit einem tiefen Knurren, das durch die Kiste bis in meine Knochen vibrierte. Und dann wurde das Knurren lauter, und die Kiste unter mir begann zu rumpeln und zu beben.
    Ich sprang hinunter – gerade rechtzeitig, bevor das ganze Ding vor mir explodierte. Holzplanken splitterten in alle Richtungen wie Zahnstocher.
    Der Sonderbare brach aus seiner Kiste aus, ein Wirbel schimmernder blauschwarzer Schuppen und riesiger, krallenbewehrter Flügel. Der riesige Kopf des Drachen schwang zu mir herum, die mächtigen Kiefer klafften weit, die goldenen Augen blickten viel wilder im Licht meines Lasters als eben noch in der engen dunklen Kiste.
    Entsetzt kroch ich rückwärts, dann sprang ich auf die Füße und griff nach der Pistole an meinem Gürtel. Mit zitternden Händen ließ ich eine Kugel ins Magazin gleiten, hob die Waffe und zielte auf das Ungeheuer.
    Jetzt war es weg. Wo es eben noch gewesen war, stand ein Mann. Ein Gestaltwandler. Splitternackt und atemberaubend gut gebaut. Er war groß und muskulös, seine Haut hatte von der Sonne einen warmen, goldenen Bronzeton. Blauschwarzes Haar fiel ihm in dicken, glänzenden Wellen auf die Schultern. Alterslose zitrinfarbene Augen schienen mich zu durchbohren, als er unbeirrt auf mich zukam, unbeeindruckt von der Waffe, die ich auf seinen Kopf gerichtet hielt.
    »Stehen bleiben, oder ich schieße«, warnte ich ihn. »Glaub nicht, dass ich dich nicht töte.«
    Er schüttelte leicht den Kopf und kam weiter auf mich zu, hatte die Distanz zwischen uns mit wenigen, leichtfüßigen Schritten durchmessen. Ich schoss nicht auf ihn, und ich schätze, dass er damit gerechnet hatte. Er hob die Hand, schloss die Finger um den Lauf meiner Waffe und drückte sie sanft, aber nachdrücklich nach unten.
    »Du hast mich ausgetrickst«, murmelte ich und fragte mich, warum mir das einen solchen Stich versetzte.
    »Nein«, antwortete er, seine Stimme klang so sanft wie schon die ganze Nacht. »Meine Entführer haben mir Wasser verweigert, und ich war am Verdursten. Du hast mich gerettet. Du … hast mich überrascht. Es ist sehr lange her, dass ich Güte erfahren habe, besonders von einem Menschen.«
    Er lächelte und strich mir über die Wange. Als ich mein Gesicht abwandte, beschämt über die Lust, die mich allein angesichts seines Lobes und seiner leichten Berührung durchströmte, nahm er mein Kinn und drehte mein Gesicht wieder sanft zu sich, bis ich ihn ansehen musste. »Ich glaube, Nisha die Herzlose, deinem Ruf zum Trotz bist du in Wirklichkeit ein sehr gütiger Mensch.«
    Seine Hände waren warm und stark, als er sie um mein Gesicht legte und mich an sich zog. Er küsste mich, streifte kurz und sanft meine Lippen. Und meine Sinne öffneten sich ihm so ausgehungert, als hätte ich mein ganzes Leben lang auf diesen Kuss eines Sonderbaren gewartet. Ich hätte ihn die ganze Nacht lang küssen können. Vielleicht hätte ich es auch getan, aber draußen vor der Lagerhalle ertönte plötzlich das Dröhnen eines sich nähernden Fahrzeugs.
    »Mein Kunde«, gelang es mir zu keuchen, als ich mich abrupt von dem Gestaltwandler löste, den ich in diesem Augenblick seinen zukünftigen Mördern auszuliefern hatte. Ich hörte Kies knirschen, Bremsen kreischen … und dann fielen kurz nacheinander zwei Wagentüren ins Schloss. »Sie kommen dich holen.«
    Er nickte ernst und trat von mir zurück. Zurück auf die zersplitterten Überreste der Frachtkiste und die zerbrochenen Fußfesseln, die während seiner Verwandlung von ihm abgefallen waren. Er würde nicht gegen die Männer kämpfen, die ihn jetzt holen kamen.
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