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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt
Autoren: Verhoef & Escober
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Inschriften und Gedenktafeln an den Wänden aus behauenem Naturstein zu betrachten. In dem Dämmerlicht waren sie kaum lesbar, die schwarzen Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen.
     
    ÜBER ALLES DAS DEUTSCHE VATERLAND.
DER STADT MÜNCHEN ZUR ERINNERUNG
AN DEN 3. DEUTSCHEN REICHSKRIEGERTAG
IM JAHRE 1929.
     
    Finster blickte er auf den Innenhof, wo aus den Mäulern monsterhafter Wasserspeier in dünnen Strahlen das Regenwasser prasselte. Hier war er als Kind gewesen, an der sicheren Hand seiner Mutter. Fast hatte er es vergessen. Ihr ernstes, unbewegtes Gesicht, die Blässe darin, das dünne, nach hinten gekämmte Haar. Ihre Kleidung, ein karierter Rock und eine Art Filzjacke, in Grün. Es waren einzelne Erinnerungsfetzen, die ihm plötzlich wieder zu Bewusstsein kamen. Dieses Gebäude hatte einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn als Kind gemacht, aber besonders oft war er hier anscheinend nicht gewesen. Er zog die Nase hoch und schloss die Augen, um sie sogleich erschrocken wieder zu öffnen, weil es ihm plötzlich so vorkam, als würde er hintenüberfallen.
    In den vergangenen Wochen war er ziellos umhergeirrt, teils in den Niederlanden, teils in Belgien, von einem Hotel zum nächsten und von einer Bar zur anderen. Über die Ardennen war er ins französische Elsass gelangt und dann, wie ein Jagdhund, der plötzlich auf die richtige Fährte gestoßen ist, schnurstracks über die A8 nach Bayern gefahren.
    Gestern war er spätabends in München angekommen und hatte ein Hotel am Stadtrand gefunden. Eine alte Wassermühle, gelegen an einem Fluss mit starker Strömung, ausgestattet mit einer Handvoll Gästezimmern, davor ein kleiner Parkplatz. Geführt wurde das weiß gestrichene Hotel von einem etwa sechzigjährigen Mann mit grauem Bart. Anderen Gästen war er nicht begegnet, es gab auch keine Hotelbar und kein Restaurant. Bloß die Zimmer und einen Gemeinschaftsraum, der als Frühstückssaal diente.
    In dem durchgelegenen Bett hatte er nachts zum ersten Mal seit Jahren wieder geträumt. Von seiner Mutter. Ganz genau hatte er ihr Gesicht vor sich gesehen. Ein trauriger Blick in den Augen, nervös zuckende Mundwinkel. Von ihrer stillen, dunklen Welt aus hatte sie ihn stumm, ja fast schon vorwurfsvoll angeschaut.
    Wäre seine Mutter noch am Leben, sie hätte keinen Grund, auf ihren Sohn stolz zu sein. Keinen einzigen. Vor ein paar Jahren womöglich schon noch, aber inzwischen nicht mehr. Zu viel war seither geschehen.
    Er trat aus dem Durchgang in den Hof. Der Wind wurde stärker, wirbelte die hohen Wände mit ihren schmalen, düsteren Bogenfenstern hinauf und verursachte ein tiefes Pfeifen. Dutzende scheußlicher Monster mit Fledermausflügeln schauten ihn aus ihren in Stein gemeißelten Gesichtern ausdruckslos an. Spindeldürre Hunde klammerten sich mit ängstlich hervortretenden Augen an die Fassaden, als könnten sie jeden Moment Prügel beziehen. Links befand sich ein Turm, bei dem die Wasserspeier, die das Gemäuer auf unterschiedlicher Höhe zierten, in Form von menschlichen Fratzen gestaltet waren: Mit wie zum Schrei aufgerissenen Mündern, aber toten und blinden Augen starrten sie bis in alle Ewigkeit vor sich hin.
    Der Wind zerrte an seiner Jacke und schien ihm zu winken, schien ihn mitreißen zu wollen, weiter in die Mitte, wo er schwankend stehen blieb. Er schüttelte den Kopf und strich sich mit den Händen die Nässe vom kurz geschorenen Schädel. Schmeckte die Regentropfen auf den Lippen. Es lag wohl am Alkohol, aber es kam ihm doch eindeutig so vor, als wollten die Mauern ihm etwas mitteilen. Sie schienen sich über ihn zu beugen, ihn einzuschließen. Ein schweres, dumpfes Jammern stieg kläglich aus den aufgesperrten steinernen Mäulern.
    Kurz spürte er wieder dieselbe Angst, die er als Kind gehabt hatte. Hier, auf diesem Platz. Zu Hause, bei seiner Mutter. Dann ebbte sie wieder ab.
    Es sind Steine, Maier. Nichts als Steine. Wasserspeier, vor Generationen mit Hammer und Meißel geschaffene Figuren, die dazu dienten, das Regenwasser abzuleiten, das sich auf diesen kostbaren Gebäuden ansammelte. Und böse Geister abzuwehren.
    Böse Geister.
    Wüteten sie deshalb so sehr? Zog der Wind deshalb so hartnäckig an seiner Jacke, und fühlte er sich deshalb so unmittelbar von den Mauern angesprochen?
    Regungslos blieb er stehen, fasziniert von den Geräuschen, die zwischen den hohen Wänden widerhallten. Es war, als ob die versteinerten Dämonen Kontakt zu ihm suchten, einen Seelenverwandten in ihm
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