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Verschleppt

Verschleppt

Titel: Verschleppt
Autoren: Verhoef & Escober
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Und für alle, die von Dachau und der Architektur aus einem der schwärzesten Kapitel der Geschichte nicht genug bekommen konnten, gab es sogar eine »Extended Third-Reich-Tour« im Angebot. Großartig: zwei Tage Amüsement der zweifelhaften Art unter fachkundiger Leitung eines Fremdenführers, der so jung war, dass er sein Wissen auch bloß aus Geschichtsbüchern haben konnte.
    Aber was wusste er selbst eigentlich von München? Verdammt wenig. Alles, was seine Geburtsstadt betraf, hatte er jahrzehntelang verdrängt und mit einem dicken, undurchdringlichen Schild aus Desinteresse und Zynismus von sich ferngehalten. Schöne Erinnerungen, auf die er hätte zurückschauen können, waren ihm nur wenige geblieben.
    Maier war hier zur Welt gekommen und von seiner Mutter großgezogen worden. Sein Vater hatte sich gar nicht erst blicken lassen. Seine Jugend war einsam gewesen, aber das war ihm erst später bewusst geworden. Er erinnerte sich an ein kahles Zimmer mit einem Skai-Sofa und einem moosgrünen Teppichboden, auf dem er mit dem Dreirad im Kreis fuhr, während seine Mutter schlief. Sie schlief viel damals. Manchmal schloss sie sich tagelang mit geschlossenen Vorhängen in ihrem Schlafzimmer ein.
    Eines Morgens wachte sie nicht wieder auf. Reagierte nicht, als er an ihren Schultern zog und aus purer Angst zu schreien und zu heulen anfing. Lag bloß da, mit offenem Mund und halb geschlossenen Augen, in diesem abgedunkelten Raum, ihr Gesicht sonderbar blass und leicht bläulich schimmernd. An den Geruch konnte er sich noch genau erinnern. Ein Geruch, der zu seiner Mutter gehörte. Der Geruch von hochprozentigem Alkohol.
    Er war damals erst acht Jahre alt gewesen, und die Behörden wollten ihn in ein Waisenheim stecken. Doch dann hatte seine Großmutter mütterlicherseits sich gemeldet und ihn nach Utrecht mitgenommen, in die Niederlande.
    Zu jener Zeit hatte er zum letzten Mal einen Fuß auf bayerischen Boden gesetzt. Später hatte er geschäftlich noch gelegentlich in Deutschland zu tun gehabt, aber in den Süden zu reisen, das wäre ihm doch zu weit gegangen. Oder vielmehr: zu nahe gegangen.
    »Heimat«, murmelte er zynisch vor sich hin, den finsteren Blick auf eine kleine Gruppe von Münchnern am Nebentisch gerichtet. Sie brüllten vor Lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Ein Menschenleben kann sonderbare Wege gehen, wurde ihm bewusst. Wäre seine Mutter am Leben geblieben, säße er jetzt womöglich mit dort am Tisch, im Janker oder mit einem Jägerhut aus Filz auf dem Kopf. Es war unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.
    Zumindest die Sprache beherrschte er fließend, auch den Dialekt konnte er noch immer mühelos verstehen. Das schon. Genau betrachtet war er aber ein Fremdling im eigenen Land.
    Er war nirgends zu Hause.
    Er kippte den letzten Schluck Bier hinunter. Sein viertes Glas, allmählich entfaltete der Alkohol seine betäubende Wirkung. Er stellte das leere Glas geräuschvoll auf den Tisch und winkte der in einem Dirndl steckenden Bedienung, dass sie die Rechnung bringen sollte. Er zahlte in bar.
    Als er zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang ging, spürte er, dass die zwei Liter Schneider Weiße durchaus nicht ohne Wirkung geblieben waren. Nur mit Mühe konnte er geradeaus gehen. Schlagartig traf es ihn, als er nach draußen trat, wo der Oktoberwind durch die dunklen, leeren Straßen pfiff und der Regen große Pfützen auf dem Pflaster bildete. Seit gestern Mittag war die Temperatur mindestens um zehn Grad gefallen. Er zitterte vor Kälte und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
    Gegenüber gab es einen Taxistand. Sieben cremefarbene Wagen standen dicht hintereinander. Im fahlen Licht der Armaturenbretter warteten die Fahrer auf Kundschaft. Manche lasen, andere telefonierten angeregt. Die Autos schienen hin und her zu schaukeln. Nach links, nach rechts, dann wurden sie unscharf.
    Vielleicht ging er besser noch eine Runde um den Block, bevor er sich in sein Hotel zurückfahren ließ. In seinem jetzigen Zustand könnte er ohnehin nicht einschlafen.
    Er spazierte in Richtung Rathaus. Das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das düster aus den glitzernden Straßen aufragte, erinnerte an eine gotische Kirche. Über den Jackenkragen perlten Regentropfen seinen Rücken hinunter. Er spürte sie nicht.
    Beide Flügel des meterhohen Tors standen offen. In dem langen gewölbten Durchgang, der auf den Innenhof führte, blieb er stehen, die Hände in den Taschen vergraben, um die zahllosen
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