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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben
Autoren: Else Buschheuer
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Schauspielerei.« »Rolle 17 B«, das war immer sein Spruch. Niemand in meiner Familie wies ähnliche Defekte auf. Woher kam das?
    Der Schweizer Psychiater C. G. Jung erzählte einmal in einem Interview, wie er mit elf, auf dem Weg zur Schule, plötzlich aus dem Nebel trat und wusste, dass er IST. Das hat mich beeindruckt. Einfach so, auf dem Schulweg? Kommt das von selbst, muss man sich für so etwas nicht anstrengen, sichstrecken wie Michelangelos Adam nach Gott in der Sixtinischen Kapelle?
    In der ersten Klasse brachte man mir das Schreiben bei. Ich war begeistert bei der Sache und malte eine Reihe mit Vieren, eine schöner als die andere. Aber meine Vieren waren nicht gültig. Ich hatte sie mit der falschen Hand geschrieben, mit der bösen Hand, der linken. Damals hatte ich noch keine Argumente: Muhammad Ali, Mozart, Bob Dylan, Rachmaninow, Caspar David Friedrich, die Jungfrau von Orléans, Picasso, sie alle waren Linkshänder. Aber weil ich das nicht wusste, ließ ich mich umtrainieren.
    Nur die Schlaghand, die blieb links. Ich war eine Jungentochter, »Knolls Junge«, nannte mich mein Großvater, Klempnermeister Wilhelm Knoll. Ich habe mich viel geprügelt als Kind. Es gibt von mir ein Passfoto aus der 1. Klasse, mit dicker Lippe und falsch geknöpftem Pulli. Einmal kam ich mit einem Veilchen nach Hause, ein anderes Mal habe ich einem Mitschüler, der Kleinere am Ranzen zog, eine Beule gehauen, einmal zerschlug ich sogar meinen Gipsarm auf dem Kopf eines Spötters zu Brei. »Gesund ist, wer andere zermalmt«, gibt März zu Protokoll. War ich gesund? War ich im Recht? Wie findet man allein heraus, was richtig ist und was falsch?
    Und was ist mit der Phantasie? Ist die einfach da? Kann man sie zudrehen wie einen Wasserhahn? Die Dichterin Else Lasker-Schüler schrieb über ihre Schulzeit: »Jedem Buchstaben malte ich ein Tuch um den Hals, da er fror, es war im Winter.« Begeisterung wird sie damit nicht geerntet haben. Der Konstruktivist Heinz von Foerster weiß, warum: »Man fragt ein Kind: Was ist zwei mal zwei? Und es sagt: Grün! Eine solche Antwort ist auf geniale Weise unberechenbar, aber sie scheint uns unzulässig, sie verletzt unsere Sehnsucht nach Berechenbarkeit.« Das ist eine der unlösbaren Gleichungen der Erziehung: die Berechenbarkeit der kleinen Menschmaschinen, die übers Laufband kullern.
    Aber warum sich auflehnen? Denken, irren, diskutieren,man muss das alles gar nicht selber machen. Sich eine eigene Meinung bilden – wozu? Es gibt doch schon genug. Es ist doch alles schon da. Wie Konfektionsanzüge hängen die Urteile an Stangen herum, wie gebratene Tauben fliegen uns Pauschalisierungen ins Maul – wir brauchen nur zuzuschnappen. Wofür soll ich mich entscheiden? Im Supermarkt? An der Wahlurne? Es gibt sicher jemanden, der mir das sagt.
    Wir haben kapituliert. Wir denken nicht selber, wir lassen denken. Wir surfen im Windschatten der Leitwölfe, wir fischen anonym im Trüben, wir lassen andere Farbe bekennen und heften uns mental an ihre Fersen. Wir verstecken uns in der Schwarmintelligenz. Irgendjemand sagt mir schon, worüber ich trauern soll, was mich zornig machen, was mich freuen soll. Alle ziehen an einem Strang, egal, wohin der führt. Einfach ziehen, was für ein herrliches Gemeinschaftsgefühl. Petitionen, Aktionen, Spenden, Flashmobs, Solidarisierungen: Gefällt mir. Ich stimme zu, ich unterschreibe, ich fühle mich aktiv.
    Mit 17 schrieb ich meiner Cousine Kristina: »Hebe meine Briefe auf. Es könnte sein, ich werde einmal furchtbar berühmt (entweder als Anarchist, Schauspieler oder Schriftsteller, Selbst- oder Doppelmörder). Dann wird alles, was ich einmal von mir gegeben habe, gefragt sein, und meine Arschfalte wird heilig gesprochen.«
    Ohne den fast 30 Jahre aufbewahrten Brief – eines Tages stand Kristina vor mir, wedelte damit und fragte, wann die Sache endlich Geld einbringen würde – hätte ich mich an diesen Weltüberwältigungsvorsatz gar nicht erinnert. Aber er war offenbar da. Teile davon haben sich sogar erfüllt. Es gibt die Theorie, dass eine Persönlichkeitsstörung dem Ruhm vorangeht, also gleichsam Voraussetzung für Ruhm ist, NICHT, wie oftmals angenommen, andersrum. Stars haben also keine Macken, weil ihnen etwa ihr Ruhm zu Kopf gestiegen ist, sondern sie hatten schon immer Macken, nur wusste das niemand, weil niemand sie kannte. Diese Macken kommenausgiebig zum Tragen vor einer breiten Öffentlichkeit. Romy Schneider, Lady Gaga, Madonna und
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