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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben
Autoren: Else Buschheuer
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führt die ihm aufgetragenen Arbeiten nicht aus. Er gibt keine Auskunft über seine Motive. Sein Widerstand ist entwaffnend statt bewaffnet. Sein Stoizismus rührt an und macht ratlos:
    ICH MÖCHTE LIEBER NICHT.
    Er ist auch noch höflich dabei, höflich, aber unbeirrbar. Eshandelt sich nicht um ein Nein, das eigentlich ein Ja ist. Er möchte tatsächlich lieber nicht: sich überreden lassen, sich einschüchtern lassen, sich bitten lassen, sich einlullen lassen. Er möchte nicht nachgeben, nicht klein beigeben, nicht vortäuschen. Er will mit allen Sinnen bei sich bleiben. Vielleicht ist es ja auch viel simpler, und er hat keine Lust. Was immer sein Antrieb ist, wo immer das hinführt, er tut es – nicht.
    Kipphardts Romanfigur März ist langjähriger Patient in einer psychiatrischen Anstalt und soll zur Arbeitstherapie gebracht werden. »Möchten Sie töpfern, Körbe flechten oder in die Weihnachtsfiguren-Stanzerei?«, fragt ihn der Oberpfleger. »Ich möchte lieber gar nicht«, sagt März und blickt auf die körbeflechtenden Patienten im Raum. »Warum?«, fragt der Arzt. »Das sehen Sie doch selbst«, sagt März.
    Lernen Sie ihn kennen, den Luxus des Neinsagens. Nein ist ein machtvolles Wort. Und so kurz. Nur vier Buchstaben! Bringen Sie den Mut auf, sich zu verweigern, egal, wer da vor Ihnen steht, egal, wer was von Ihnen fordert. Es gibt so unendlich viel zu verweigern. Sex. Aussage. Nahrungsaufnahme. Zustimmung.
    Wollen wir uns duzen? – Nein.
    Darf ich noch mit reinkommen? – Nein.
    Gefällt dir mein Buch? – Nein.
    Kommst du Weihnachten? – Nein.
    Willst du mich heiraten?
    Nein, verdammt! What part of NO don’t you understand?

5. Ruhepause: Think small!
    »Ich leide an Versagensangst,
    besonders, wenn ich dichte.
    Die Angst, die machte mir bereits
    manch schönen Reim zuschanden.«
    Robert Gernhardt

Der Mensch, auch der tatkräftige, kann nicht jeden Tag einen tanzenden Stern gebären. Er hat nicht immer diesen Jahrhundertatem, mit dem er Ozeane leerpusten kann. An manchen Tagen atmet der Mensch flach, kaum hörbar: ein und aus, ein und aus. Er steckt mit dem Kopf im Mond und kriegt schlichtweg keine Luft. Er befindet sich, wie Kipphardts März es sagen würde, »im Zustand des Leerlaufs auf vollen Touren«. Er ist voll, viel zu voll von allem, und er ist erschöpft, der Welt abhandengekommen. Lebt er noch, ist er schon tot? Das sind die Momente totaler Ausbremsung, sie fühlen sich an, als wollte man gegen den Wind pinkeln. Manchmal kommt es ganz plötzlich. Rilke beschreibt diesen Zustand in »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, seinem einzigen Roman: »Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als wäre das das Natürlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf, es war etwas Unerhörtes da.« So fühlt man sich, zusammengeknüllt und fortgeworfen.
    Dann klopft der Zweifel an, der große Schattenmann, das nagende, pochende Tier, der letzte Besuch, den man auf der Welt haben will. Der Zweifel hat die Stimme der Mutter. Er sagt: »Mit dir wird es nie was.«
    Der Zweifel, vor allem der Selbstzweifel, macht uns hässlich und klein. Auch die Größten von uns macht er hässlich und klein. Wir stellen alles, was wir sind, in Frage. Kennen Sie die Geschichte von dem Mann mit dem langen Bart? Jemand fragt ihn, ob er den Bart beim Schlafen über die Bettdecke legt oder drunter. Von dem Tag an kann der Mann nicht mehrschlafen. Der Vierschanzenkönig Sven Hannawald war am Ende seiner Karriere so von Selbstzweifeln geplagt, dass er nicht mehr springen konnte. So geht das. Wenn man eine eigene Fähigkeit in Frage stellt, ist sie plötzlich weg. Yehudi Menuhin fragte sich als junger Mann einmal, warum er so spiele, wie er instinktiv spielt – und konnte für einige Zeit gar nicht mehr spielen. Stellen Sie sich solche Fragen nicht in Zeiten der Not.
    Es regnet draußen, irgendwo schreit ein Kind, irgendwo jault ein Hund. Ein Nachbar bohrt mit einer Schlagbohrmaschine direkt ins Hirn. Eine Grippe ist im Anmarsch, die Rechnungen stapeln sich, man weiß nicht, wie es weitergeht, man weiß nicht mal, ob es weitergeht. Man kann es nur machen wie die Anonymen Alkoholiker: One step at a time. Einen Fuß vor den anderen setzen, anstatt in der Tiefe des Tals über den Sinn des Lebens nachzugrübeln. Beschränken Sie sich auf die naheliegenden Fragen: Wo sind die Taschentücher? Ist genug Essen im Haus? Ganz platte
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