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Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht
Autoren: Cecelia Ahern
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darüber, hatte aber irgendwie auch ein schlechtes Gewissen. Der nächste Teil unserer Wanderung war länger, als Helena gedacht hatte, und wir mussten eine halbe Stunde marschieren, ehe wir in der Ferne auf einer Lichtung eine kleine Hütte entdeckten. Rauch quoll aus dem Schornstein zu den hohen Kiefern empor und über sie hinaus, in den wolkenlosen Himmel hinein.
    Wir blieben stehen. Helena war müde und knallrot im Gesicht, und meine Gewissensbisse verstärkten sich, weil ich ihr an so einem heißen Tag diese Wanderung zumutete. Bobby betrachtete die Hütte ziemlich enttäuscht, wahrscheinlich hatte er etwas Aufregenderes erwartet. Aber ich war noch gespannter als zuvor – falls das möglich war. Der Anblick des bescheidenen Häuschens raubte mir fast den Atem. Hier wohnte Jenny-May, die immer geprahlt hatte, dass sie hoch hinaus wollte. Für mich war es ein Traum, ein perfektes Bild. Genau wie Jenny-May.
    Auf beiden Seiten des Hauses standen große Bäume, vorn war ein kleiner Garten mit Ziersträuchern, hübschen Blumen und ein paar kleinen Gemüse- oder Kräuterbeeten. Die umherschwirrenden Fliegen glänzten im Sonnenlicht, das durch die Bäume fiel und die Mitte der Lichtung wie mit einem Scheinwerfer erleuchtete.
    »Oh, seht mal!«, rief Helena. Sie hatte Bobby gerade die Wasserflasche gereicht, als die Tür der Hütte sich öffnete und ein kleines Mädchen mit blonden Haaren herausgestürmt kam. Ihr Lachen hallte über die Lichtung und wurde von der warmen Brise zu uns herübergetragen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Vermutlich gab ich auch irgendein Geräusch von mir, denn Bobby und Helena sahen mich erstaunt an. Tränen stiegen mir in die Augen, während ich die Kleine beobachtete, die nicht älter sein konnte als fünf Jahre und genauso aussah wie das kleine Mädchen, mit dem ich meinen ersten Schultag erlebt hatte. Dann ertönte aus dem Haus eine Frauenstimme, und mein Herz begann heftig zu pochen.
    »Daisy!«
    Dann eine Männerstimme: »Daisy!«
    Aber die kleine Daisy rannte weiter durch den Garten, kichernd und hüpfend, und ihr zitronengelbes Kleid flatterte im Wind. Nach einer Weile kam ein Mann aus dem Haus und begann ihr nachzulaufen. Das Kichern wurde lauter und mischte sich mit lauten Freudenschreien. Der Mann knurrte und brummte drohend, und die Kleine wollte sich ausschütten vor Lachen. Schließlich erwischte er sie und schwang sie durch die Luft, während sie kreischte: »Nochmal, nochmal, nochmal!« Als sie beide so außer Atem waren, dass sie kaum noch Luft bekamen, hielt er inne und trug die Kleine ins Haus zurück. Aber kurz bevor er die Tür erreichte, blieb er stehen und drehte sich langsam nach uns um.
    Er rief etwas ins Haus, und die Frauenstimme antwortete. Um sie zu verstehen, waren wir zu weit entfernt, aber der Mann sah uns immer noch an.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich schließlich und legte die Hand über die Augen, um uns im Gegenlicht besser sehen zu können.
    Helena und Bobby schauten mich an. Sprachlos starrte ich zu dem Mann und dem Kind auf seinem Arm.
    »O ja, danke. Wir suchen Jenny-May Butler«, antwortete Helena. »Ich bin nicht sicher, ob wir hier richtig sind.«
    Aber eigentlich zweifelte ich keine Sekunde daran.
    »Mit wem habe ich das Vergnügen?«, fragte der Mann höflich. »Tut mir leid, aber von hier kann ich Sie nicht richtig erkennen.« Er kam ein paar Schritte näher.
    »Sandy Shortt möchte Jenny-May gern sprechen«, rief Helena.
    Sofort erschien eine zweite Gestalt an der Tür.
    Ich schnappte hörbar nach Luft.
    Lange blonde Haare, schlank und hübsch. Sie sah aus wie immer, nur ein bisschen älter. In meinem Alter, genau genommen. Sie trug ein luftiges weißes Baumwollkleid und war barfuß. In der Hand hielt sie ein Geschirrtuch, das zu Boden fiel, als sie mich entdeckte.
    »Sandy?« Auch ihre Stimme war älter, aber unverkennbar. Sie zitterte und war ein wenig unsicher, und ich hörte in ihr Angst und Freude zu gleichen Teilen.
    »Jenny-May!«, rief ich zurück und merkte, dass meine Stimme genauso klang.
    Schluchzend lief sie auf mich zu, und auch mir liefen Tränen über die Wangen, während ich ihr entgegeneilte. Ich sah, wie sie die Arme nach mir ausstreckte, und spürte, dass ich unwillkürlich dasselbe tat. Die Entfernung zwischen uns wurde immer kleiner, Jenny-May mit jedem Schritt realer. Weinend wie Kinder bewegten wir uns aufeinander zu, und während wir einander musterten, tauchten zahllose Erinnerungen in uns auf,
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