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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Autoren: Heather Gudenkauf
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war es am schlimmsten. Ich lag im Bett, und mein Gehirn konnte nicht abschalten. Ich konnte nicht aufhören, mir darüber Gedanken zu machen, was meine Eltern von mir dachten, was andere von mir hielten, was der nächste Test, das nächste Spiel, das College, meine Zukunft bringen würden.
    Ich hatte einen Trick, mit dem ich versucht habe, mich nachts zur Ruhe zu bringen. Ich legte mich auf den Rücken, steckte die Decke um mich herum ganz fest und stellte mir vor, in einem kleinen Boot zu sein. Vor meinem inneren Auge erschien ein See, der so groß war, dass ich das Ufer nicht erkennen konnte. Der Himmel über mir war wie eine umgedrehte Schüssel, schwarz, mondlos und voller blinkender Feenlichter als Sterne. Kein Lüftchen regte sich, aber mein Boot trug mich trotzdem über das glatte, dunkle Wasser. Das einzige Geräusch kam von den träge an den Rumpf schlagenden Wellen. Das beruhigte mich immer, und ich konnte meine Augen schließen und mich ausruhen. Da ich erst sechzehn war, als ich ins Gefängnis kam, wurde ich so lange von den anderen Insassen abgeschottet, bis ich achtzehn wurde.
    Nach den ersten fürchterlichen Wochen merkte ich plötzlich, dass ich mein Boot nicht mehr brauchte, und schlief ganz großartig.
    Devin schaut mich erwartungsvoll an und wartet darauf, dass ich ihr sage, was ich als Erstes tun möchte, nun, da ich in Freiheit bin. „Ich möchte meine Mom, meinen Dad und meine Schwester sehen“, sage ich und unterdrücke ein Schluchzen. „Ich will nach Hause.“
    Ich fühle mich wegen vieler Dinge, die passiert sind, schlecht. Vor allem wegen der Dinge, die ich mit meiner Tat meiner Schwester angetan habe. Ich habe versucht, mich zu entschuldigen, alles wiedergutzumachen, aber das war nicht genug gewesen. Brynn will nichts mehr mit mir zu tun haben.
    Zu dem Zeitpunkt, als ich verhaftet wurde, war Brynn fünfzehn und, nun ja, ziemlich unkompliziert. Zumindest dachte ich das. Brynn wurde nie böse, niemals. Es war, als könnte sie ihren Ärger in einer kleinen Kiste verstauen, bis die so voll war, dass nichts mehr hineinpasste und sich alles in ihr in Traurigkeit verwandelte.
    Als wir Kinder waren und mit unseren Puppen spielten, habe ich immer die mit dem cremefarbenen, makellosen Gesicht und den weichen, gekämmten Haaren genommen und Brynn die Puppe überlassen, die einen mit wasserfestem Stift aufgemalten Schnurrbart und verfilztes Haar hatte, das mit einer stumpfen Schere schlecht geschnitten worden war. Brynn schien es nie etwas auszumachen. Ich hätte ihr die neue Puppe direkt aus den Händen schnappen können, und ihr Gesichtsausdruck hätte sich nicht verändert. Sie nahm einfach die traurige, zerbrochen aussehende Puppe und nahm sie in den Arm, als wäre sie schon immer ihre erste Wahl gewesen. Ich konnte Brynn dazu bringen, alles für mich zu tun – den Müll rausbringen, staubsaugen. Auch wenn ich eigentlich dran war.
    Im Rückblick gab es Zeichen, kleine Risse in Brynns unbeschwerter Persönlichkeit, die kaum zu bemerken waren. Doch wenn ich sehr still beobachtete, konnte ich sie sehen. Und ich entschied mich, sie zu ignorieren.
    Mit ihren Fingern zupfte sie die feinen, dunklen Haare einzeln von ihrem Arm, bis die Haut ganz rot und rau war. Sie tatdas völlig gedankenverloren, war sich überhaupt nicht bewusst, wie seltsam sie aussah. Nachdem ihre Arme keine Haare mehr hatten, fing sie mit ihren Augenbrauen an. Zog und zupfte sich die Haare aus. Auf mich wirkte es, als versuche sie, sich zu häuten. Unserer Mutter fiel auf, dass Brynns Augenbrauen immer dünner und dünner wurden, und sie versuchte alles, um dem Einhalt zu gebieten. Wann immer Brynn die Hand zu ihrem Gesicht wandern ließ, schlug meine Mutter sie fort. „Willst du seltsam aussehen, Brynn?“, fragte sie. „Ist es das, was du willst? Dass alle anderen Mädchen über dich lachen?“
    Brynn hörte auf, ihre Augenbrauen auszuzupfen, aber sie fand andere Wege, sich zu bestrafen. Sie knabberte ihre Fingernägel bis aufs Fleisch herunter, biss sich auf die Innenseiten ihrer Wangen, kratzte und pulte an Wunden und Schorf, bis es eiterte.
    Wir waren komplett gegensätzlich. Yin und Yang. Ich bin groß und robust, Brynn ist kleiner und empfindlich. Ich bin eine große, unbeugsame Sonnenblume, ich wende mein Gesicht immer der Sonne zu. Brynn ist wie Schleierkraut, zart und fein, mit gesenktem Kopf in der Brise nickend. Auch wenn ich es ihr nie gesagt habe, liebe ich sie mehr als alles und jeden auf der Welt. Ich habe ihre
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