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Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
Autoren: Heather Gudenkauf
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nicht, wie Allison jetzt aussieht. Ich stelle mir vor, dass das Gefängnis nicht gerade dazu beiträgt, dass man sein gutes Aussehen behält. Ihre einst hohen Wangenknochen könnten jetzt unter Bergen von Fett begraben sein, ihr langes, glänzendes Haar könnte sich in eine krause Matte verwandelt haben und kurz geschnitten sein. Ich weiß es nicht. Ich habe Allison nicht mehr gesehen, seitdem die Polizei sie abgeholt hat.
    Ich vermisse meine Schwester, die Schwester, die meine Hand gehalten halt, als ich an meinem ersten Vorschultag den ganzen Weg bis zu meinem Klassenzimmer geweint habe. Die, die mir geholfen hat, Wörter zu buchstabieren, bis ich sie in- und auswendig kannte. Die versucht hat, mir beizubringen, wie man Fußball spielt. Diese Allison vermisse ich. Die andere … überhaupt nicht. Ich könnte meine Schwester für den Rest meines Lebens nie wiedersehen und hätte keinerlei Probleme damit. Nachdem sie ins Gefängnis gekommen war, bin ich durch die Hölle gegangen. Jetzt endlich habe ich das Gefühl, im Haus meiner Großmutterein Heim gefunden zu haben. Ich habe meine Freunde, meine Schule, meine Oma, meine Tiere, und das reicht mir.
    Ich habe Angst, herauszufinden, wie die fünf Jahre im Gefängnis Allison verändert haben. Sie war immer so schön und selbstsicher. Was, wenn sie nicht mehr das gleiche Mädchen ist, das Jimmy Warren, den Rüpel aus der Nachbarschaft, mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte? Was, wenn sie nicht mehr das gleiche Mädchen ist, das acht Meilen laufen und dann einhundert Sit-ups machen konnte, ohne auch nur schwerer zu atmen?
    Oder schlimmer noch, was, wenn sie noch die Gleiche ist? Was, wenn sie sich überhaupt nicht verändert hat?

ALLISON
    Ich denke, meine Schwester weiß nicht mal, dass ich aus dem Gefängnis entlassen werde. Zwei Jahre nach meiner Verurteilung hat sie ihren Highschool-Abschluss gemacht und ist nach New Amery gezogen, einem Städtchen zweieinhalb Stunden nördlich von Linden Falls, wo mein Vater aufgewachsen ist. Sie lebt bei unserer Grandma. Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass sie auf dem Community College etwas studiert, das sich Haustierwissenschaft nennt. Brynn hat Tiere schon immer geliebt. Ich bin froh, dass sie sich ein Studium ausgewählt hat, das zu ihr passt. Wenn es nach dem Willen meiner Eltern gegangen wäre, hätte Brynn an meiner Stelle Jura studieren müssen.
    Brynn antwortet immer noch nicht auf meine Briefe und will auch nicht am Telefon mit mir sprechen, wenn ich sie bei Grandma anrufe. Ich meine, ich versteh das. Ich verstehe, warum sie nichts mit mir zu tun haben will. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich vermutlich das Gleiche getan. Aber ich hätte nie so lange von ihr fernbleiben können. Fünf ganze Jahre hat sie mich ignoriert. Ich weiß, ich habe sie als selbstverständlich angesehen, aber ich war noch ein Kind. Dafür, dass ich so klug war, wusste ich überhaupt nichts. Heute sehe ich die Fehler, die ich damals gemacht habe. Ich weiß nur nicht, wie ich meine Schwester zurückgewinnen, wie ich sie dazu bringen kann, mir zu verzeihen.
    Während der Fahrt nach Linden Falls sprechen Devin und ich nicht viel, und das ist auch in Ordnung. Devin war nicht viel älter, als ich jetzt bin, als meine Eltern sie angeheuert haben, um mich zu vertreten. Frisch aus der Law School kam sie nach Linden Falls, weil ihr Sweetheart vom College hier aufgewachsen ist und sie heiraten und eine gemeinsame Kanzlei eröffnen wollten. Die Hochzeit hat nie stattgefunden. Er ist weggezogen, sie ist geblieben. Ohne Devin hätte ich vermutlich viel, viel länger im Gefängnis gesessen. Ich schulde ihr eine Menge.
    „Du musst ein ganz neues Leben anfangen, Allison“, sagtDevin mir, während sie auf den Highway fährt, der den Druid River passiert und dann nach Linden Falls führt. Ich nicke, sage aber nichts. Ich will mich freuen, aber hauptsächlich verspüre ich Angst. In die Stadt zu fahren, in der ich geboren und aufgewachsen bin, macht mich schwindelig. Ich presse die Hände gegeneinander, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Erinnerungen stürmen auf mich ein, als wir an der Kirche vorbeifahren, die ich jeden Sonntag besucht habe, an meiner Grundschule und der Highschool, wo ich nie einen Abschluss gemacht habe. „Alles in Ordnung mit dir?“, will Devin wissen.
    „Ich weiß nicht“, antworte ich ehrlich und lehne meinen Kopf gegen die kühle Seitenscheibe. Wir fahren schweigend weiter, am St. Anne’s College vorbei, wo
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