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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen
Autoren: Nora Roberts
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Tagelang hatte er für sie gebetet, für die Reinigung ihrer Seele. Jetzt war der Zeitpunkt der Vergebung fast gekommen. Er war nur ein Werkzeug.
    Der Tumult setzte in seinem Kopf ein und breitete sich nach unten aus. Göttliche Macht strömte in ihn. Im Schatten stehend betete er, bis sie vorüberkam.
    Er handelte rasch, was nur barmherzig war. Als er ihr das Humerale um den Hals geschlungen hatte, blieb ihr nur noch ein Augenblick, um aufzukeuchen, bevor er das Tuch fest zusammenzog. Als ihr die Luftzufuhr
    abgeschnitten wurde, stieß sie einen leisen, gurgelnden Laut aus. Von Entsetzen gepackt, ließ sie ihren Leinwandbeutel fallen und griff mit beiden Händen nach dem, was ihr den Hals abschnürte.
    Manchmal, wenn seine Macht groß war, konnte er sie schnell wieder loslassen. Doch das Böse in ihr war stark und forderte ihn zum Kampf heraus. Ihre Finger zerrten an der Seide, dann gruben sie sich tief in die Handschuhe, die er trug. Als sie nach hinten trat, hob er sie hoch, aber sie hörte nicht auf, wild um sich zu treten. Einer ihrer Füße stieß gegen eine Mülltonne, die klappernd umfiel. Der Lärm hallte in seinen Kopf wider, daß er fast aufgeschrien hätte.
    Dann erschlaffte ihr Körper, und die Herbstluft trocknete die Tränen auf seinem Gesicht. Er legte sie behutsam auf den Asphalt der Straße und erteilte ihr in der alten Sprache Absolution. Nachdem er ihr den Zettel an den Pullover geheftet hatte, segnete er sie.
    Sie hatte Frieden gefunden. Und er ebenfalls, zumindest im Moment.

    15
    »Es besteht kein Grund für diese selbstmörderische Fahrweise.« Eds Stimme klang gelassen, als Ben mit fünfzig Meilen um eine Ecke raste. »Sie ist bereits tot.«
    Ben schaltete den Gang herunter und bog nach rechts ab.
    »Du bist ja wohl derjenige, der das Auto zu Schrott gefahren hat. Mein Auto«, fügte er ohne allzu große Gehässigkeit hinzu. »Das hatte erst fünfundsiebzigtausend Meilen drauf.«
    »War eben eine rasante Verfolgungsjagd«, murmelte Ed.
    Der Mustang geriet ins Schlingern, als sie über eine unebene Stelle fuhren, was Ben daran erinnerte, daß er die Stoßdämpfer hatte überprüfen wollen.
    »Und du hast es ja überlebt.«
    »Mit Quetschungen und Schnittwunden.« Ben huschte bei Gelb durch und schaltete in den dritten Gang.
    »Zahlreichen Quetschungen und Schnittwunden.«
    Ed lächelte, als ihm alles wieder einfiel. »Wir haben sie doch erwischt, oder?«
    »Sie waren ja auch bewußtlos.« Ben hielt mit
    kreischenden Bremsen am Bordstein an und steckte die Autoschlüssel in die Tasche. »Und mein Arm mußte fünfmal genäht werden.«
    »Mecker, mecker, mecker.« Gähnend hievte Ed sich aus dem Auto und trat auf den Bürgersteig.
    Es war noch früh am Morgen und so kalt, daß man den eigenen Atem sehen konnte. Dennoch hatte sich bereits eine Menschenansammlung gebildet. Fröstelnd bahnte sich Ben, der alles für einen heißen Kaffee gegeben hätte, seinen Weg durch die Schar der Neugierigen und trat in die Gasse, die man mit einem Seil abgesperrt hatte.
    »Sly.« Ben nickte dem Polizeifotografen zu und sah sich Opfer Nummer drei an.
    16
    Ihr Alter schätzte er auf sechsundzwanzig bis
    achtundzwanzig. Sie trug einen billigen Pullover aus Polyester, und die Sohlen ihrer Turnschuhe hatten fast kein Profil mehr. Sie trug lang herabhängende, vergoldete Ohrringe. Ihr Gesicht war stark geschminkt, was weder zu dem Kaufhauspullover noch zu ihren Kordhosen paßte.
    Die zweite Zigarette des Tages in der hohlen Hand haltend, hörte er sich den Bericht des neben ihm stehenden Streifenpolizisten an.
    »Ein Penner hat sie gefunden. Wir haben ihn zur Ausnüchterung in einen Streifenwagen verfrachtet.
    Offensichtlich ist er auf sie gestoßen, als er im Müll herumstöberte. Das hat ihm einen gewaltigen Schrecken eingejagt, so daß er aus der Gasse gerannt und mir fast vors Auto gelaufen ist.«
    Ben nickte und betrachtete den säuberlich beschrifteten Zettel, der an ihren Pullover geheftet war. Fast ohne daß er es merkte, erfüllten ihn einen Augenblick lang Wut und Frustration. Ed bückte sich, um den großen
    Leinwandbeutel aufzuheben, der neben ihr lag. Dabei fielen einige Busfahrscheine heraus.
    Es würde ein langer Tag werden.

    Sechs Stunden später betraten sie das Revier der Mordkommission, das zwar nicht den schäbigen Glamour des Sittendezernats aufwies, aber auch nicht so sauber und ordentlich war wie die Reviere in den Vororten. Vor zwei Jahren hatte man die Wände in einer Farbe gestrichen, die
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