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Verlorene Eier

Verlorene Eier

Titel: Verlorene Eier
Autoren: S Scarlett
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Hektik zu verfallen – entweder die Wehen haben eingesetzt, oder man hat gerade das Postamt überfallen. Ich bin schon so lange in der Einöde des Landlebens gefangen, dass ich mich ein bisschen unsicher auf den Beinen fühle. Wie ein Flüchtling, ein Kriegsheimkehrer, der nach Hause kommt und feststellt, dass all seine Freunde und seine gesamte Familie tot sind. Ein Gedanke kommt mir in den Sinn: Das ist die Stadt, in der ich verheiratet war. Eine Geisterstadt.
    Es muss am Alkohol liegen. Ich dramatisiere. Niemand ist tot. Meine Exfrau Claire ist noch immer am Leben. Irgendwo in dieser großen Stadt , würde es in einer Liebesschnulze heißen. Aber natürlich kenne ich ihre Adresse am Belsize Park. Ebenso wie die ihres Büros in der Nähe der New Bond Street. Ich kenne ihren Kollegen Matt. Ich bin ihm einmal begegnet. Er stand auf sie. Und wahrscheinlich geht er inzwischen mit ihr ins Bett.
    Okay, natürlich nicht jetzt in dieser Sekunde, aber Sie verstehen, was ich damit sagen will.
    Ha.
    Als würde mich das kümmern.
    Ich gehe die Charing Cross Road entlang. Ein Grüppchen junger Frauen drängt sich lärmend an mir vorbei. Büroangestellte, offensichtlich auf dem Rückweg einer ähnlich feuchtfröhlichen Mittagspause. Plötzlich erscheint mir die Idee, so zu tun, als wäre ich eine von ihnen, völlig absurd. Ich suche mir ein geeigneteres Objekt. Da! Eine Frau mittleren Alters mit einer Aktentasche in der Hand. Ich lasse den Blick über ihre schwarzen, auf Hochglanz polierten Pumps wandern, ihre Beine in den Nylonstrumpfhosen, den gut knielangen Karorock, eine Art Bluse mit irgendwelchen Bommeln am Ausschnitt, ihre Ohrringe, ihr dichtes blondes Haar und die Augen hinter Brillengläsern, die mich zu durchbohren scheinen. Was gibt’s denn da zu glotzen?, scheinen sie zu fragen. Sie ist in meinem Alter, trotzdem ist mir nicht klar, wie ich es jemals schaffen soll, mich in so ein Geschöpf zu verwandeln. Könnte das Ganze eine dieser Ideen sein, die einem im ersten Moment brillant erscheinen, nur um sich wenige Stunden später als absoluter Schwachsinn zu entpuppen?
    Schließlich stehe ich am Cecil Court und stelle erfreut fest, dass es die esoterische Buchhandlung nach wie vor gibt, in der jede Form von durchgeknallter okkulter, mystischer oder sonstiger Weltanschauung eine angemessene Würdigung findet. Dort habe ich mir erzählen lassen, wie der berühmte Satanist Aleister Crowley irgendwann in den Zwanzigern den Laden betreten und mit einem Fluch bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte – einem Fluch, in dessen Folge sämtliche Bücher von den Regalen verschwanden, nur um eine Sekunde später wieder aufzutauchen. Und zwar in exakt derselben Anordnung, wohlgemerkt.
    Waren die Bücher tatsächlich verschwunden, oder hat der gerissene Schuft die Leute nur durch sein exzentrisches Auftreten in seinen Bann gezogen, dass sie es nicht gemerkt haben? Das war damals die große Frage. Tja, dieser Kerl könnte mir bestimmt ein paar brauchbare Tipps geben, wie man eine ähnlich eindrucksvolle Illusion am besten erschafft.
    Ich schlendere die schmale Straße entlang, in der sich das Wyndhams Theatre befindet, vorbei an der kleinen Bar, in der ich Claire kennengelernt habe und alles anfing. Ich erinnere mich an die Abende, als wir bei einer Flasche Sauvignon Blanc im Freien saßen und den Schauspielern zusahen, wie sie durch den Bühnenausgang herauskamen, um zwischen zwei Auftritten eine Zigarette zu rauchen. Es fühlte sich an wie in einem anderen Leben. Ich war völlig hingerissen von ihren exquisiten Gesichtszügen gewesen. Von ihrem Porzellanteint und der Aura der Tragödie, die wie ein hauchdünner Schleier über ihr zu liegen schien. Sie, so wage ich zu behaupten, war fasziniert von ihrem jungen enthusiastischen Verehrer gewesen (damals fraglos noch ohne Haare in den Ohren und lila Kickers), dessen Job als freier Zeitungsschreiber ihr, der Galerieangestellten, abenteuerlich und aufregend erschienen war.
    Zu meinem Erstaunen stelle ich fest, dass ich einen Kloß im Hals habe. Dabei hatte ich doch gedacht, all das liege längst hinter mir. Rein geografisch gesehen tut es das zweifellos auch.
    Am Leicester Square steige ich in die U-Bahn und fahre bis Marylebone, wo der Zug bereits auf dem Bahnsteig wartet. Ich steige ein, suche mir einen Platz und schlummere ein, während London in der Dunkelheit an mir vorbeizieht.
    Im Traum hebt sich der Vorhang. Die Bühne ist hell erleuchtet. Gerald Douglas steht in
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