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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten
Autoren: Oswald Levett
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vergönnen,
die nahen Weihnachtstage in meiner Heimatstadt, im
Kreise meiner Lieben zu verbringen. Die Heimkehr, die veränderte
Umgebung würden meine allzu ernste, grüblerische
Stimmung bald verscheuchen.
    Da fiel mir durch irgendeinen Zufall ein Bauplan des Gerichtsgebäudes
in die Hände. Aus dem ersah ich, daß ich
einen ganzen Trakt des Hauses noch gar nie betreten hatte.
Nun waren zwar die alten Faszikel — die allein interessierten
mich — samt und sonders im Archiv verwahrt, und dieses standmir offen. Doch eine müßige Neugierde, mir selbst unerklärlich,
trieb mich, den unbekannten Trakt zu besichtigen.
    Ich fand den Eingang nicht. Und als ich danach fragte, da
hörte ich zu meinem Erstaunen, daß man von jenem Teile des
Gebäudes gar nichts wußte, daß er seit Menschen Gedenken
von niemandem betreten worden sei.
    Ich erkundigte mich weiter und geriet schließlich an einen
vormaligen Kerkermeister, einen Greis von achtzig Jahren.
Auch er hatte jenen Trakt nie gesehen, aber sein Vorgänger
im Amte hatte ihm erzählt, dort sei vor alters die Folterkammer
und der Kerker der zum Tode verurteilten Verbrecher
untergebracht gewesen. Als nun die Tortur abgeschafft
wurde, als ein menschenfreundlicherer Geist die Strafrechtspflege
erfüllte, da sei der Kerker verlegt, die Folterkammer
aufgelassen und der ganze nun überflüssig gewordene Teil
vermauert worden. Das mochte etwa um die Wende des
18. Jahrhunderts geschehen sein.
    Nun wurde meine Neugierde erst recht unbezwinglich, und
ich durfte sie damit entschuldigen, daß in den verlassenen Gemächern
vielleicht wertvolle Urkunden zu finden wären. Ich
erwirkte — nicht ohne Schwierigkeit — die Erlaubnis, den vermauerten
Eingang aufbrechen zu lassen und die abgeschiedenen
Gelasse zu besichtigen.
    Es fügte sich, daß die Durchbruchsarbeiten erst am 24. Dezember,
dem Weihnachtstage, vorgenommen werden konnten.
Die Arbeitsleute waren für sieben Uhr früh bestellt. Die
Durchbrechung konnte höchstens eine Stunde kosten, und
weitere drei Stunden reichten sicherlich aus, um die neu erschlossenen
Räume zu durchsuchen. Ich richtete mich also
darauf ein, um mit dem Zuge, der um zwölf Uhr abging,
heimzureisen.
    Der Eingang befand sich im zweiten, dem obersten Stockwerk.
Es kostete schwere Mühe, ihn zu durchbrechen. Die
Steinmetze unserer Urahnen hatten ganze Arbeit gemacht;
das Mauerwerk war an die zwei Meter dick und der Mörtel
hart wie Eisenbeton. Es schien, als wollte man für ewige Zeitenjedem Neugierigen verwehren, die finstre Stätte fluchbeladener
Grausamkeiten zu betreten.
    Endlich war der Durchbruch gelungen. Kalte, modrige
Luft schlug uns entgegen. Nur zögernd folgten mir die Arbeitsleute.
Ich nahm sie mit, weil es drinnen vielleicht noch
weitere Hindernisse zu beseitigen gab, etwa Schutt fortzuräumen,
Mauern zu durchbrechen, versperrte Türen zu erschließen.
    Von dem Eingang führte ein dunkler Korridor in ein kreisrundes
Gemach, dessen Türe übrigens unversperrt war. Es
war völlig kahl bis auf einen mächtigen Schrank, der die eine
Wand flankierte. Dieser Schrank, die Vertäfelung an den
Wänden und ein Podium von der Mitte des Gemachs bis an
die Wände deuteten darauf hin, daß wir uns in einer Art Ratsstube
befanden.
    Der Schrank war so groß, daß er nicht durch die Türe geschafft
werden konnte. Offenbar hatte man sich nicht die
Mühe genommen, ihn zerlegt fortzubringen, und darum
stand er noch heute hier — übrigens ein prächtiges Museumsstück
mit seinem reichen Schnitzwerk und der eingelegten Arbeit.
Der Schrank war versperrt, und das mächtige Schloß bot
verzweifelten Widerstand, ehe es dem Sperrhaken nachgab.
Die Laden im Innern waren unversperrt, aber leer.
    Hinter einer zweiten Türe, gegenüber jener, durch die wir
eingetreten waren, führte eine schmale Wendeltreppe in das
obere Stockwerk. Auch hier ein kreisrundes Gemach. An der
Wand eine Esse, Balkenwerk mit Ringen für Seile. Das war
die Folterkammer. Auch sie war völlig leer, nur in einer
Wandnische ragte ein mächtiger Crucifixus, blutbeströmt, in
den grob zubehauenen Zügen den Ausdruck verzweifelnder
Qual.
    Wie im unteren Stockwerk führte hier eine zweite Tür zu
einer Wendeltreppe, die aber nach oben zu durch eine
schwere Falltüre abgesperrt war. Oberhalb der Falltür war
eine Art Vorraum, aus dessen vergitterten Fenstern man übrigens
einen hübschen Rundblick auf die ganze Stadt hatte.Dieser Vorraum war begrenzt durch eine massive eisenbeschlagene
Holzwand, in die
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