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Verheißenes Land

Verheißenes Land

Titel: Verheißenes Land
Autoren: Leonie Britt Harper
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Blechscheide zog.
    Éanna schüttelte den Kopf. Sie musste wirklich völlig übermüdet sein, wenn sie sich schon solchen Unsinn einbildete. Wer sollte denn noch zu dieser nächtlichen Stunde sein Messer ziehen! Vermutlich waren Emily oder Liam im Schlaf mit der Fußschnalle gegen eine der Truhen oder Kisten gestoßen.
    Warum sie sich dennoch aufsetzte und zum Nachtlager ihrer beiden Freunde blickte, wusste sie später nicht mehr zu sagen. Doch hätte sie es nicht getan, hätte sie die schemenhafte Gestalt im dunklen Umhang und mit einem schwarzen Filzhut auf dem Kopf nicht gesehen, die nur zwei Schritte von ihr entfernt stand. Sie beugte sich gerade zu Emily hinunter und hielt tatsächlich ein Messer in der Hand!
    Éanna war vor Schreck wie erstarrt und brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, was vor sich ging. Mit der linken Hand hatte die Gestalt die Lederschnur des kleinen Brustbeutels ergriffen, den ihre Freundin unter der Kleidung trug, und mit der rechten setzte sie gerade die Messerklinge an, um die Schnur zu durchtrennen.
    Jemand wollte Emily ausrauben!
    »Nimm deine dreckigen Finger von dem Beutel«, stieß Éanna hervor und schleuderte die Decke von sich. Sie wollte aufspringen, um sich auf den Dieb zu stürzen und ihn festzuhalten, bis die anderen ihr zu Hilfe kamen. Ihre Füße verhedderten sich jedoch in der Decke und sie stürzte nach vorn auf einen Stoffballen. Zähneknirschend unterdrückte Éanna ein Fluchen, weil sie nicht laut genug gerufen hatte, um Brendan und Liam aufzuwecken. Noch im Stolpern sah sie, wie das Messer des Diebes durch die Lederschnur schnitt und er den Beutel an sich riss. Für einen flüchtigen Augenblick fiel Mondlicht auf das Gesicht des Schurken, doch mehr als eine krumme Nase, die unter dem tiefen Schatten der breiten Hutkrempe hervorschaute, enthüllte ihr der schwache Schein nicht. Und dann stürzte der Dieb auch schon mit wehendem Umhang davon.
    »Verfluchter Halunke!«, schrie Éanna nun laut.
    Überrascht fuhren Brendan, Emily und Liam aus dem Schlaf hoch.
    »Was ist denn los?«, murmelte Brendan schläfrig.
    Gleichzeitig erwachten auch die Passagiere in ihrer Umgebung. »Verdammt noch mal, was soll dieser Krawall mitten in der Nacht?«, grollte eine fremde Männerstimme verärgert hinter einer Reihe von Kisten.
    »Jemand hat Emily den Brustbeutel geklaut«, rief Éanna. »Ich habe es genau gesehen! Da vorne läuft der Dreckskerl!«
    Éanna achtete nicht auf die ärgerlichen Stimmen, die laut durcheinanderredeten und nun auch noch die tiefsten Schläfer weckten, sondern versuchte, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Indessen breitete sich das Stimmengewirr immer weiter auf der Selkirk aus.
    Den Langfinger im Blick zu behalten, erwies sich als erheblich schwerer, als Éanna vermutet hatte. Das Gepäck der Passagiere sowie die vielen Frachtstücke, die sich überall auf dem Deck auftürmten, boten dem Täter im Dunkel der Nacht Schutz. Außerdem sprangen nun überall Menschen von ihren Lagern auf und blickten verwirrt um sich.
    In diesem Durcheinander von schläfrigen Männern, Frauen und Kindern tauchte der Dieb unter. Éanna sah noch, wie er sich in der Nähe einer Treppe in eine Menschengruppe mischte und so tat, als würde auch er sich verstört nach dem Grund für die nächtliche Störung umsehen. Dann wich er rückwärts zurück und verschwand in der Menge.
    Éanna erfüllte jetzt eine ähnlich flammende Wut, wie sie Brendan am Nachmittag gepackt hatte. Wie konnte jemand etwas so Abscheuliches tun! Arme Einwanderer auszurauben, die sich jeden Cent bitter vom Mund abgespart hatten, um das nötige Geld für einen Siedlertreck nach Westen zusammenzubekommen! Wie abgebrüht musste dieser Kerl sein, dass er so etwas tat! Éanna wollte hinüber zur Treppe stürzen, doch eine Menschengruppe versperrte ihr den Weg. Die Männer und Frauen redeten in einer fremden Sprache aufgeregt durcheinander.
    »Lasst mich doch durch«, schrie sie, als sie den Dieb auf dem Oberdeck zu erkennen glaubte. »Da versucht ein Gauner zu flüchten!«
    Verständnislose Blicke trafen sie.
    Éanna gab die Erklärungsversuche auf und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Fast hatte sie den Aufgang zum Oberdeck erreicht, als ihr plötzlich ein erschrockenes Kleinkind in den Weg lief. Geistesgegenwärtig wich sie zur Seite aus, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf die Planken.
    Bevor Éanna wusste, wie ihr geschah, spürte sie zwei kräftige Hände, die sich
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