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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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an. Aber sie begriff sofort, im Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück auf; sie begriff, und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, grenzenlos liebte, und daß dieser Augenblick endlich doch gekommen war ...
    Sie wollten sprechen, konnten aber nicht. Tränen standen in ihren Augen. Beide waren bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon das Morgenrot einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu einem neuen Leben. Die Liebe hatte sie auferweckt, das Herz des einen enthielt unerschöpfliche Lebensquellen für das Herz des andern.
    Sie beschlossen, zu warten und zu dulden. Es blieben ihnen bis dahin noch sieben Jahre und so viel unerträgliche Qual, so viel grenzenloses Glück! Aber er war auferstanden, und er wußte es, er fühlte es mit seinem ganzen erneuten Wesen, und sie – sie lebte doch nur sein Leben!
    Am Abend des gleichen Tages, als die Kaserne schon geschlossen war, lag Raskolnikow auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage kam es ihm sogar vor, als ob alle Sträflinge, seine bisherigen Feinde, ihn ganz anders ansahen. Er sprach sie sogar selbst an, und sie antworteten ihm freundlich. Er erinnerte sich jetzt dessen, aber es mußte doch so kommen! Mußte sich denn jetzt nicht alles ändern?
    Er dachte an sie . Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr Herz gepeinigt hatte; er erinnerte sich ihres bleichen, schmalen Gesichtchens; aber diese Erinnerungen quälten ihn jetzt fast gar nicht; er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Qualen sühnen würde.
    Und was bedeuteten auch alle, alle Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt beim ersten Gefühlsausbruche als eine rein äußerliche, unverständliche Tatsache, die nicht ihm zugestoßen sei. An diesem Abend konnte er übrigens gar nicht lange und dauernd an etwas denken, konnte seine Gedanken nicht auf etwas konzentrieren; jetzt hätte er auch gar nichts bewußt beschließen können; er fühlte nur. Statt der Dialektik begann jetzt das Leben, und in seinem Bewußtsein mußte sich jetzt etwas ganz anderes herausarbeiten.
    Unter seinem Kissen lag das Neue Testament. Er griff mechanisch danach. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm von der Auferstehung des Lazarus vorgelesen hatte. Zu Beginn seines Zuchthauslebens hatte er geglaubt, daß sie ihn mit der Religion totquälen würde, daß sie immer über das Evangelium sprechen und ihm Bücher aufzwingen würde. Aber zu seinem größten Erstaunen hatte sie kein einzigesmal die Rede darauf gebracht und ihm sogar nie das Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Erkrankung darum gebeten, und sie hatte ihm schweigend das Buch gebracht. Bis jetzt hatte er es nicht mal aufgeschlagen.
    Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke zog ihm durch den Sinn: »Können denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Wenigstens ihre Gefühle, ihre Bestrebungen ...?«
    Auch sie war diesen ganzen Tag in Erregung, und in der Nacht erkrankte sie von neuem. Aber sie war so glücklich, so unerwartet glücklich, daß sie vor ihrem Glück fast erschrak. Sieben Jahre, bloß sieben Jahre! Im Anfange ihres Glücks waren sie in manchen Augenblicken beide geneigt, diese sieben Jahre für sieben Tage zu halten. Er wußte nicht, daß dieses neue Leben ihm nicht umsonst zufallen würde, daß er es teuer erkaufen und mit einer großen künftigen Tat bezahlen müsse ...
    Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, – die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus der einen Welt in eine andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannten Wirklichkeit. Das könnte den Stoff zu einer neuen Erzählung abgeben, aber unsere jetzige Erzählung ist zu Ende.
     
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