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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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Raskolnikow durch sie Protektion bei den Behörden gefunden habe, daß sein Arbeitspensum erleichtert worden sei und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht (Dunja hatte schon in den letzten Briefen eine eigentümliche Aufregung und Unruhe gemerkt), daß er alle meide, daß die anderen Sträflinge ihm feindlich gesinnt seien, daß er tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich teilte Ssonja in ihrem letzten Briefe mit, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital, in der Sträflingsabteilung liege.
     
II
     
    Er war schon seit langem krank; es waren aber nicht die Schrecken des Zuchthauslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Verpflegung, auch nicht der abrasierte Kopf und die Sträflingskleidung, was ihn gebrochen hatte: ach, was machte er sich aus allen diesen Qualen und Peinigungen! Im Gegenteil, er freute sich sogar über die Arbeit: wenn er sich bei der Arbeit körperlich abgehetzt hatte, konnte er wenigstens einige Stunden ruhig schlafen. Und was bedeutete für ihn das Essen – diese fleischlose Kohlsuppe mit Küchenschwaben? Als Student in seinem früheren Leben hatte er oft auch nicht mal das gehabt. Seine Kleidung war warm und seiner Lebensweise angepaßt. Die Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er sich seines rasierten Kopfes und seiner zweifarbigen Jacke schämen? Vor wem? Vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn doch, sollte er sich vor ihr schämen?
    Gewiß! Er schämte sich sogar vor Ssonja, die er dafür durch seine verächtliche und rohe Behandlung quälte. Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze. Oh, wie glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Alles würde er dann tragen, selbst die Schande und Schmach. Aber er richtete sich streng, und sein erbittertes Gewissen konnte in seiner Vergangenheit keine besondere Schuld finden außer einem einfachen Versehen , das auch jedem anderen passieren konnte. Er schämte sich gerade dessen, daß er, Raskolnikow, so blind, hoffnungslos, lautlos und dumm nach dem Ratschlusse eines blinden Schicksals zugrundegegangen war und sich vor dem »Unsinn« irgendeines Urteils demütigen und beugen mußte, wenn er sich nur einige Ruhe verschaffen wollte.
    Eine gegenstandslose und ziellose Unruhe in der Gegenwart, ein ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das er nichts gewann – das erwartete ihn in der Welt. Was liegt ihm daran, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt sein wird und ein neues Leben beginnen kann? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wonach soll er streben? Leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit gewesen, seine Existenz für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Die Existenz allein hatte ihm niemals genügt, er strebte immer nach Größerem. Vielleicht hatte ihn bloß diese Kraft seines Wollens auf den Gedanken gebracht, daß er ein Mensch sei, der sich mehr erlauben dürfe als alle anderen?
    Hätte ihm das Schicksal doch Reue gesandt, eine brennende Reue, die das Herz zerbricht, den Schlaf vertreibt, eine Reue, bei deren schrecklichen Qualen man an die Schlinge und einen Sumpf denkt! Oh, wie würde er sich darüber freuen! Qualen und Tränen – das ist doch auch Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht.
    Er könnte sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher über seine häßlichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn nach Sibirien brachten. Als er sich aber jetzt im Zuchthause, in Freiheit alle seine früheren Handlungen überlegte, fand er sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit erschienen waren.
    – Wodurch, wodurch – dachte er, war mein Gedanke dümmer als alle anderen Gedanken und Theorien, die in der Welt schwirren und zusammenprallen, solange die Welt steht? Man braucht nur die Sache mit einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen losgelösten Blick anzuschauen, und dann wird mein Gedanke natürlich gar nicht so ... seltsam erscheinen. O ihr Verneiner und Weisen, die ihr einen Fünfer wert seid, warum bleibt ihr auf halbem Wege stehen! –
    – Warum erscheint ihnen meine Tat so häßlich? – fragte er sich selbst. – Weil sie ein Verbrechen ist? Was bedeutet das Wort Verbrechen? Mein Gewissen ist ruhig. Ich habe sogar ein Kapital verbrechen begangen; der Buchstabe des Gesetzes ist natürlich verletzt, und Blut
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