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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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erneuern und zu reinigen, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimmen gehört.
    Raskolnikow quälte es, daß dieser sinnlose Fiebertraum so traurig und schmerzlich in seinen Erinnerungen fortlebte, daß der Eindruck dieser Träume so lange nicht weichen wollte. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, heitere Frühlingstage; in der Sträflingsabteilung des Spitals standen die Fenster offen (vergitterte Fenster, unter denen ein Wachtposten auf und ab ging). Ssonja hatte ihn während seiner Krankheit bloß zweimal besuchen können; man mußte jedesmal um Erlaubnis bitten, und das war schwer. Sie kam aber oft auf den Hof des Spitals, vor sein Fenster, besonders gegen Abend, manchmal aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe zu stehen und wenigstens aus der Ferne auf die Fenster seiner Abteilung zu schauen. Eines Abends war Raskolnikow, der schon fast genesen war, eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig ans Fenster und erblickte plötzlich weit am Spitaltore Ssonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. Es war ihm, als durchbohrte etwas in diesem Augenblick sein Herz; er fuhr zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am folgenden Tage kam Ssonja nicht, am dritten Tage auch nicht; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwartete. Endlich wurde er aus dem Spital entlassen. Ins Zuchthaus zurückgekehrt, erfuhr er von den Sträflingen, daß Ssofja Ssemjonowna erkrankt sei, zu Hause liege und nicht aufstehe.
    Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Bald erfuhr er, daß die Erkrankung nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits erfuhr, daß er sich nach ihr sehnte und sich um sie sorgte, schickte sie ihm einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, in dem sie ihm mitteilte, daß es ihr schon viel besser gehe, daß es eine unbedeutende, leichte Erkältung sei und daß sie bald, sehr bald ihn wieder bei der Arbeit aufsuchen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft.
    Es war ein heiterer und warmer Tag. Am frühen Morgen um sechs Uhr ging er zur Arbeit, an das Flußufer, wo in einem Schuppen ein Ofen zum Alabasterbrennen eingerichtet war und wo der Alabaster gestoßen wurde. Bloß drei Arbeiter gingen dorthin. Der eine von ihnen ließ sich vom Wachtsoldaten in die Festung zurückführen, um irgendein Werkzeug zu holen; der andere begann das Holz zu zerkleinern und es in den Ofen zu legen. Raskolnikow trat aus dem Schuppen ans Ufer, setzte sich auf die dort aufgestapelten Balken und begann auf den breiten und öden Fluß zu blicken. Vom hohen Ufer bot sich eine Aussicht auf die weite Umgebung. Vom anderen fernen Ufer tönte kaum hörbar ein Lied herüber. Dort lagen in der unübersehbaren, vom Sonnenlicht übergossenen Steppe als schwarze Punkte die Zelte der Nomaden verstreut. Dort war die Freiheit, dort lebten andere Menschen, die ganz anders waren als die hiesigen, dort schien die Zeit selbst stillzustehen, als wäre das Zeitalter Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikow saß da und blickte unverwandt und regungslos hinüber, seine Gedanken wurden zu Träumen, zu Kontemplation; er dachte an nichts, aber ein tiefer Gram erregte und quälte ihn.
    Plötzlich sah er neben sich Ssonja. Sie war unhörbar herangetreten und hatte sich neben ihn gesetzt. Es war noch sehr früh; die Morgenkühle war noch nicht gewichen. Sie hatte ihren alten ärmlichen Pelz an und das grüne Tuch um. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren der Krankheit, es war magerer, blasser und schmächtiger geworden. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, reichte ihm aber die Hand scheu, wie immer.
    Sie reichte ihm die Hand immer so scheu, manchmal reichte sie sie ihm gar nicht, als fürchtete sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm ihre Hand stets mit Widerwillen, empfing sie stets wie geärgert und schwieg zuweilen hartnäckig während ihres ganzen Besuches. Es kam vor, daß sie vor ihm zitterte und in tiefem Kummer von ihm ging. Aber jetzt lösten sich ihre Hände nicht; er sah sie schnell und flüchtig an, sagte nichts und schlug seine Augen nieder. Sie waren beide allein, niemand sah sie. Der Wachtsoldat hatte sich gerade weggewandt.
    Wie es kam, das wußte er selbst nicht, aber plötzlich packte ihn etwas und warf ihn zu ihren Füßen. Er weinte und umschlang ihre Knie. Im ersten Augenblick erschrak sie, und ihr Gesicht wurde totenblaß. Sie sprang von ihrem Platze auf und sah ihn zitternd
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