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Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland
Autoren: Robert Harris
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tun. Kritzinger ist der Auslöser. Er war der erste der Gruppe, der starb.« März hob den Taschenkalender auf.
    »Hier - sehen Sie her.«, er markiert den Tag von Kri t zingers Tod mit einem Kreuzchen. Danach aber vergehen die Tage und nichts geschieht; vielleicht sind sie in Siche r heit. Dann am 9. April - ein weiteres Kreuzchen! Bü h lers alter Kollege aus dem Generalgouvernement, Schö n garth, ist im Bahnhof Zoo unter die Räder einer U-Bahn g e rutscht. Panik auf Schwanenwerder! Aber da ist es schon zu spät ... «
    »Ich sagte: Es reicht!«
    »Eine Frage störte mich: Warum gab es während der ersten 9 Jahre nur 8 Tote, denen dann weitere 6 in den let z ten 6 Monaten folgten? Warum diese Eile? Warum dieses schreckliche Risiko nach so langer Geduld? Aber wir Pol i zisten heben ja selten unsere Nasen aus dem Dreck, um uns das größere Bild anzusehen, nicht wahr? Alles sollte am letzten Dienstag erledigt sein und bereit für den Besuch unserer guten neuen Freunde, der Amerikaner. Und das wirft eine weitere Frage auf:..«
    »Geben Sie mir die!« Krebs riß Kalender und Notizbuch aus März' Griff. Draußen im Gang: die Stimme von Globus ... »... würde Heydrich das alles aus eigenem Antrieb getan haben, oder handelte er auf Befehl von höher oben? Befehl vielleicht von derselben Person, die ihre Unterschrift unter kein Dokument hatte setzen wollen ... « Krebs hatte den Ofen aufgerissen und stopfte die Papiere hinein.
    Einen Augenblick lang lagen sie schwelend auf den Kohlen, und dann flammten sie gelb auf, als sich der Schlüssel im Schloß der Zellentür drehte.

FÜNF
    »Kulmhof!« schrie er Globus an, als der Schmerz zu schlimm wurde. »Belzec! Treblinka!«
    »Na also, jetzt machen wir Fortschritte.« Globus grinste seine beiden Gehilfen an.
    »Majdanek! Sobibor! Auschwitz/Birkenau!« Er hielt die Namen wie einen Schild vor sich, um die Schläge abz u wehren.
    »Und was soll ich jetzt tun? Zusammenschrumpfen und sterben?« Globus hockte sich auf seine Schenkel, ergriff März bei den Ohre n und zerrte sein Gesicht auf sich zu. »Das sind nur N a men, März. Da gibt es nichts mehr, nicht mal einen Zi e gelstein. Niemand wird da s jemals glauben. Und soll ich Ihnen was sagen? Ein Teil von Ihnen kann das selbst nicht glauben. « Globus spie ihm ins Gesicht - eine n Klumpen graugelben Speichels. »So viel wird das die Welt kümmern.« Er schleuderte ihn fort, mit dem Kopf gegen den Steinboden.
    »Und jetzt noch einmal: Wo ist das Mädchen?«

SECHS
    Die Zeit kroch mit gebrochenem Kreuz auf allen vieren. Er bibberte. Seine Zähne klapperten wie eine Spielzeugm e chanik.
    Andere Häftlinge waren Jahre vor ihm hier gewesen. Anstelle von Grabsteinen hatten sie mit zersplitternden Fingernägeln in di e Zellenwände gekratzt. J. F. G. 22. 2. 57«. »Katja«, »H. K. Mai 44«.
    Jemand hatte nur den halben Buchstaben E geschafft, ehe ihn die Kraft oder Zeit oder Wille verließen. Aber i m mer noch dieser Dran g zu schreiben ...
    Keines der Zeichen war, wie er bemerkte, höher als e i nen Meter über dem Boden.
    Die Schmerzen in seiner Hand machten ihn fiebern. Er hatte Halluzinationen. Ein Hund zermalmte seine Finger zwischen seinen Kiefern.
    Er schloß die Augen und fragte sich, wie spät es wohl sei. Als er Krebs zuletzt gefragt hatte, war es - was? - fast 6 gewesen.
    Danach hatten sie vielleicht noch eine weitere halbe Stunde geredet. Danach war eine zweite Sitzung mit Gl o bus gewesen - endlos.
    Und jetzt diese Strecke allein in der Zelle, wobei er ins Licht und aus dem Licht glitt, von der Erschöpfung in die eine, von dem Hund i n die andere Richtung gezerrt.
    Der Boden war warm unter seiner Wange, der glatte Stein löste sich auf.

    Er träumte von seinem Vater - sein Kindheitstraum -, wie jene steife Gestalt auf der Fotografie lebendig wird und ihm von Deck seines Schiffes aus zuwinkt, während es aus dem Hafen ausläuft, ihm zuwinkt, bis er zu einem Stric h männchen geschrumpft ist, bis er verschwindet. Er träumte von Jost, wie der auf der Stelle lief und mit seiner feierl i chen Stimme das Gedicht intoniert:
    Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin, damit es wächst ...
    Er träumte von Charlie.

    Meistens aber träumte er, er sei wieder in Paules Zi m mer, in jenem furchtbaren Augenblick, in dem er begriffen hatte, was der Junge aus Zuneigung - Zuneigung ! - getan hatte, und sich seine Arme nach der Tür ausstreckten, aber seine Beine gefangen blieben - und das Fenster barst und Fäuste an seinen
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