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Valhalla: Thriller (German Edition)

Valhalla: Thriller (German Edition)

Titel: Valhalla: Thriller (German Edition)
Autoren: Thomas Thiemeyer
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standen still, trugen sie keinen Meter weiter. Sie musste stehen bleiben, sie konnte einfach nicht anders. Sie hatte diesen Moment erwartet, fast schon ersehnt. In ihren Träumen hatte sie ihn wieder und wieder durchlebt. So oft, dass er schon fast zu etwas Gewohntem geworden war und sie ihn vergessen konnte. Doch jetzt brach die Erinnerung gewaltsam über sie herein.
    Den Blick fest auf ihr Gegenüber gerichtet, stellte sie sich der Erkenntnis – und verzweifelte.
    Es gibt Momente im Leben eines jeden Menschen, da nützt ihm sein ganzes Wissen nichts. Weder seine Erziehung noch seine schulische Entwicklung, weder seine Ausbildung noch seine Erfahrung. Alles, was er zu wissen glaubt, wird binnen weniger Augenblicke in ein schwarzes Loch gesaugt, in einen Abgrund, der weder Trost noch Hilfe noch Halt spendet. Plötzlich lernen wir unsere urtümliche Seite kennen, eine Seite, die wir alle in uns tragen, die ihr animalisches Haupt aber nur selten erhebt. Es ist der Augenblick des Staunens und der Panik, der Ehrfurcht und des Entsetzens. Ehrfurcht vor Dingen, die wir uns nicht erklären können, Entsetzen vor der schöpferischen Kraft, die dem Leben in all seinen Facetten und Ausprägungen innewohnt. Das eine erscheint uns schön, das andere gefährlich. Für manche Dinge empfinden wir Zuneigung oder Bewunderung, für andere Ekel oder Furcht. Und manchmal – sehr selten – empfinden wir das alles zugleich. Wenn das geschieht, ist für jeden der Punkt erreicht, an dem er sich fragt, ob wir vielleicht nicht doch nur ein Haufen Schiffbrüchiger sind, die ziellos über die dunklen und alles verschlingenden Meere treiben. Verdammte Seelen auf einem wackeligen Floß, mit nichts weiter unter unseren Füßen als einer dünnen Schicht aus Holz.
    Hannah glaubte zu spüren, dass dies einer der einschneidendsten Momente ihres Lebens war. Was sie genau gesehen hatte, konnte sie auch Jahre später und nach mehreren therapeutischen Sitzungen nie genau beschreiben. Sei es, dass sie es aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse tatsächlich nicht genauer erkannte, sei es, dass ihr Verstand sich weigerte, die Realität zu akzeptieren – es blieb eine verschwommene Erinnerung. Nur manchmal, in ihren Träumen, begegnete sie ihm wieder und wachte schweißgebadet auf.
    Was da vor ihr stand, war weder Mensch noch Tier, weder tot noch lebendig. Eine sabbernde und übelriechende Persiflage der Natur. Eine bis ins Groteske übersteigerte Kreatur, die vollkommen fremdartig erschien, deren Wurzeln jedoch eindeutig menschlich waren. Mehr noch, sie gehörten einer bestimmten Person: Professor Dr. Frédéric Moreau.
    Dieses Wissen war nicht irgendwelchen besonderen oder unverwechselbaren Details geschuldet, sondern allein der Tatsache, dass er sie wiedererkannte. Denn das tat er. Er stand da und starrte sie an. So wie eine Schlange, kurz bevor sie zuschlug.
    Hannahs Herz schlug bis zum Hals. Aus ihrem Mund drang ein dünnes Wimmern. Langsam wich sie vor dem Wesen zurück, das ihr den Weg in die Freiheit versperrte. Blut troff von seinen Extremitäten, während ein ekelerregendes Keuchen aus seiner Kehle aufstieg. Falls dieses Ding überhaupt so etwas wie eine Kehle besaß. Denn selbst wenn es ein Lebewesen war – und das war unbestritten –, so entsprach es doch keiner traditionellen Klassifikation. Es war einfach
anders,
und das war alles, was Hannah bei den Befragungen Wochen und Monate später zu Protokoll geben konnte.
    Noch hatte es sich keinen Meter auf sie zubewegt, doch das war nur eine Frage der Zeit. Hannah überschlug ihre Chancen, umzudrehen und eine andere Richtung einzuschlagen, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Weder kannte sie sich in der Station gut genug aus, noch würde die Zeit reichen. Also wartete sie.
    In diesem Moment schob sich ein Lauf über ihre Schulter. Schwarz, kalt, tödlich. Er war nicht auf sie, sondern auf das Ding am Ende des Korridors gerichtet.
    »Keine Bewegung, Frau Dr. Peters. Bleiben Sie stehen. Wenn es merkt, dass Sie fliehen wollen, greift es an.«
    Ein dunkler russischer Akzent. Viktor Primakov!
    Sie drehte den Kopf um einige Grad und bemerkte sechs oder sieben schwarzgekleidete Soldaten an seiner Seite, die ihre automatischen Waffen im Anschlag hielten. Sie hatten sich vollkommen lautlos genähert.
    »Ich zähle bis drei, dann verschwinden Sie rechts in den Gang, aus dem Sie gekommen sind«, flüsterte Primakov. »Wir werden die Aufmerksamkeit des Biestes auf uns lenken und es hinter uns
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