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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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gegenüber taub zu sehen. Was im Fleische geboren, stirbt im Fleische. Die Welten vergehen von Finsternis zu Finsternis, eine nach der anderen, und so ruhmreich Rom auch sein möge, es gehört doch der Welt an und muss mit ihr vergehen. Eure Seele aber, erfüllt vom Licht Gottes, wird nicht vergehen. Die Finsternis wird sie nicht überschatten. Vergießt keine Tränen über die Finsternis der Welt. Vergießt keine Tränen über die zerstörten Paläste und Theater. Es ist Eurem Glauben nicht würdig. Vergießt keine Tränen über die Schwestern und Brüder, die Alarichs Schwert uns genommen. Wie könnt Ihr von Gott verlangen, Rechenschaft abzulegen über deren Tod, Ihn, der Seinen einzigen Sohn als Opfer gegeben, zur Vergebung unserer Sünden? Gott schont, wen Er will. Und diejenigen, die Er erwählt hat, sterben zu lassen als Blutzeugen, die erfreuen sich heute daran, nicht verschont worden zu sein im Fleische, denn sie leben für immer in der ewigen Glückseligkeit Seines Lichtes. Dies ist es, dies allein, was uns versprochen ist, uns, die wir Christen sind.
    Ihr, die Ihr mir teuer seid,
    geratet auch nicht über die Anfeindungen der Heiden in Verwirrung. So viele Städte sind gefallen, die nicht christlich waren, und ihre Götzen haben sie nicht retten können. Du aber, ist es ein Götze aus Stein, den Du anbetest? Rufe Dir in Erinnerung, wer Dein Gott ist. Rufe Dir in Erinnerung, was Er Dir verkündet hat. Er hat Dir verkündet, dass die Erde zerstört werden wird durch das Schwert und die Flammen, Er hat Dir die Zerstörung und den Tod versprochen. Wie kannst Du darüber erschrecken, dass die Prophezeiungen sich erfüllen? Er hat auch die Rückkehr Seines glorreichen Sohnes versprochen auf das Trümmerfeld, damit errichtet werde das ewige Reich des Lichtes, dem Du angehören wirst. Warum weinst Du, anstatt Dich zu erfreuen, Du, der Du nur in Erwartung des Endes der Welt lebst, wo Du doch ein Christ bist? Aber vielleicht schickt es sich weder zu weinen noch sich zu erfreuen. Rom ist gefallen. Es wurde eingenommen, aber die Erde und die Himmel sind davon nicht erschüttert. Schaut Euch um, Ihr, die Ihr mir teuer seid. Rom ist gefallen, aber ist es in Wahrheit nicht so, als wäre nichts geschehen? Der Lauf der Sterne ward nicht unterbrochen, die Nacht folgt auf den Tag, dem die Nacht folgt, mit jedem Augenblick, das Gegenwärtige taucht aus dem Nichts auf und fällt in das Nichts zurück, Ihr seid da, vor mir, und die Welt läuft noch immer ihrem Ende entgegen, aber sie hat es noch nicht erreicht, und wir wissen nicht, wann sie es erreicht haben wird, denn Gott entdeckt uns nicht alles. Aber was Er uns entdeckt, reicht aus, unsere Herzen zu erfüllen, und es hilft uns, uns im Kampf zu stärken, denn unser Glaube an Seine Liebe ist so, dass Er uns die Folter erspart, die jene erleiden müssen, die diese Liebe nicht gekannt haben. Und so bewahren wir ein reines Herz in der Freude Christi.
    Augustinus unterbricht für einen Moment seine Predigt. In der Menge sieht er aufmerksame Gesichter, von denen viele wieder heiter geworden sind. Aber noch immer hört er erstickte Schluchzer. Nah bei ihm, gegen die Chorschranke gelehnt, richtet eine junge Frau ihre von Tränen umschleierten Augen auf ihn. Er wirft ihr zunächst den strengen Blick eines zornigen Vaters zu, sieht aber, dass sie ihn merkwürdig anlächelt durch ihre Tränen, und kurz bevor er wieder das Wort ergreift, sendet er ihr ein Zeichen des Segens, und es ist dieses Lächeln, an das er, zwanzig Jahre später, ausgestreckt auf dem Boden der Apsis, wieder denkt, während die Geistlichen kniend um das Heil seiner Seele beten, das niemand bezweifelt.
    Augustinus liegt im Sterben in seiner Stadt, die seit drei Monaten von den Truppen Geiserichs belagert wird. Gut möglich, dass nichts anderes geschehen war in Rom im August 410 als die Erschütterung eines Gravitationszentrums, der Auftakt eines leichten Kippmoments, dessen Impuls schließlich die Vandalen quer durch Spanien hat stürzen lassen und von da über die Meere bis unter die Mauern von Hippo Regius. Augustinus ist am Ende seiner Kräfte. Die Entbehrungen haben ihn so sehr geschwächt, dass er sich nicht einmal mehr erheben kann. Er hört das Geschrei der vandalischen Armee nicht mehr noch die furchtsamen Stimmen der ins Kirchenschiff geflohenen Gläubigen. In seinem erschöpften Geist scheint die Basilika wieder ein Hafen des Lichts und der Ruhe geworden zu sein, den die Hand Gottes schützt. Bald schon
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