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Unter goldenen Schwingen

Unter goldenen Schwingen

Titel: Unter goldenen Schwingen
Autoren: Natalie Luca
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entschuldigend meine Worte klangen.
    Wagner neigte nachdenklich den Kopf zu Seite. »Es ist seine Art, mit eurem Verlust umzugehen.«
    »Es ist seine Art, mit allem umzugehen«, murmelte ich.
    Der Lehrer blickte mich lange an. »Ich kann verstehen, wenn du dich verletzt fühlst. Oder zornig, oder traurig, oder enttäuscht. Aber du darfst nicht zulassen, dass diese Gefühle dich beherrschen, verstehst du?«
    Sein intensiver Tonfall verwirrte mich. Ich schluckte und starrte auf die Kästen vor mir im Regal. Meine Augen waren fest auf die Beschriftungen an ihren Seiten geheftet. »Mein Vater ist die meiste Zeit fort, und meine Freunde …« Ich brach ab und schüttelte den Kopf.
    » … verstehen dich nicht?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Und deshalb bist du enttäuscht?«
    Ich schwieg.
    »Du solltest froh darüber sein. Es bedeutet, dass sie sich nicht vorstellen können, was du durchmachst. Oder wäre es dir lieber, sie hätten ähnliche Erfahrungen wie du?«
    Ich erstarrte entsetzt. »Nein. Natürlich nicht. Es ist nur … manchmal ist es so schlimm, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll …« Ich verstummte, als ich meine eigenen Worte hörte. Es war die Wahrheit, doch ich hatte sie noch nie ausgesprochen, erst recht keinem Lehrer gegenüber.
    Wagner nickte nachdenklich. »Ich verstehe. In solchen Fällen …« Er streckte die Hände zu den Seiten aus. »Ich präsentiere: den ›Ort-ohne-den-scheußlichen-Rest-der-Welt‹, wir haben von Montag bis Freitag geöffnet.«
    Ich schmunzelte leicht. »Danke.« Nach kurzem Nachdenken fügte ich hinzu: »Ich glaube, ich habe meinen eigenen ›Ort-ohne-den-scheußlichen-Rest-der-Welt‹.«
    »Sehr gut! Geh dorthin, wenn es schlimm wird. Das hilft.«
    Dass Wagner nicht fragte, um was für einen Ort es sich handelte, war einer der Gründe, warum ich ihn mochte. Ich fragte mich, ob ich mit ihm auch darüber sprechen konnte, was mich an meinen geheimen Ort trieb. Würde er verstehen, was niemand sonst verstand?
    »Danke für deine Hilfe, Victoria.« Wagner räumte den letzten Kasten in das Regal. »Ist noch etwas?«
    Ich zögerte einen Moment. »Nein. Alles okay«, murmelte ich dann und verließ rasch den Physiksaal.
    Draußen stieß ich mit Anne zusammen, die vor der Tür auf mich gewartet hatte.
    »Also nochmal zu der Party …«
    »Hör mal, Amor , selbst wenn ich wollte, ich habe gar keine Zeit. Mein Vater hat etwas geplant.«
    Anne blickte mich überrascht an. »Der Workaholic ist in der Stadt?«
    Ich nickte. »Schlechtes Gewissen, nehme ich an.«
    »Was habt ihr vor?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Egal, wir schmeißen die Party auf jeden Fall.« Anne blieb hartnäckig, während wir auf den Ausgang zusteuerten. »Das sind wir Mark und Chrissy schuldig.«
    »Ich glaube, sie würden es überleben.«
    Anne warf mir einen strengen Blick zu. »Nur weil dich keiner der Jungs interessiert, müssen wir anderen nicht auch wie im Kloster leben.« Sie imitierte die Stimme ihrer Großmutter. »›Der Himmel weiß, du brichst Herzen, Schneewittchen.‹«
    Schneewittchen – so nannte mich Annes Oma seit meiner Kindheit. Vermutlich lag es an meinen langen, dunklen Haaren, meinem hellen Teint und meinen blauen Augen.
    Im Gegensatz zu Anne, die ständig mit ihrer Figur auf Kriegsfuß stand, hatte ich wenig für Styling übrig. Ich hatte mir nie viel aus Make-up gemacht, trug am liebsten Jeans und T-Shirts, und meine Haarmähne ließ ich meistens einfach offen. In den letzten Monaten hatte ich mir jedoch noch weniger Gedanken um mein Äußeres gemacht, als davor .
    In meinem Leben gab es nämlich ein davor und ein danach .
    Davor war alles in Ordnung gewesen.
    Danach …
    Genau genommen gab es in meinem Leben nur ein davor .
    Anne kicherte noch immer, als wir auf den Schulhof traten, doch der stürmische Wind fegte ihr Lachen von den Lippen. Ich warf einen unbehaglichen Blick nach oben. Schwarze Wolken jagten über den Himmel. Während wir uns über den Schulhof Richtung Busstation kämpften, wickelte ich mich in meine Jacke und schlug den Kragen hoch.
    »Ich hasse dieses Wetter«, schimpfte Anne durch ihren Schal hindurch. »Oh nein, auch das noch! A-Liga voraus.«
    Ich folgte ihrem Blick. Auf dem Schulparkplatz standen zwei neue BMW Sportwagen mit laufenden Motoren. Ihre Bässe vibrierten mit der Art von Clubmusik, für die Jugendliche in unserem Alter nicht einmal einen Namen hatten . Die Wagen waren umringt von Gruppen von Schülern, und in der Mitte standen, sich in den
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