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Unter feindlicher Flagge

Unter feindlicher Flagge

Titel: Unter feindlicher Flagge
Autoren: Sean Thomas Russell
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Ausstrahlung dieser Dame war für ihn neu, und so bemühte er sich, Henrietta nicht anzustarren.
    »Ich verstehe nicht, warum du dieses Irrenhaus besuchst«, bemerkte Robert und riss Hayden aus seinen Träumereien.
    Henrietta gab sich überrascht. »Aber dieser Ort ist einzigartig«, sagte sie. »Die Schönheit der Landschaft sucht ihresgleichen, und von morgens bis mittags kann man tun, was man möchte. Für Lady Endsmere muss es tagsüber kein Unterhaltungsprogramm geben. Allein deswegen ist es dort einfach himmlisch ...«
    Es war der Klang ihrer Stimme, der Hayden dazu verführte, die junge Frau wieder anzuschauen. Er sah ihre glatte Haut, ihr Haar, das die Farbe von Mahagoni hatte und noch so viele andere Nuancen aufwies: kastanienbraun, kupferfarben, bronzefarben ...
    »... und gegen Abend fällt die gleiche Missachtung der Konventionen auf. Am Tisch spricht man über Politik und Kunst, über Naturphilosophie und Dichtkunst. Lady Endsmere ermuntert alle anwesenden Damen, frei ihre Meinung zu irgendeinem Thema zu äußern. In England gibt es, glaube ich, kein offeneres Haus. Und nur die bedeutendsten Gentlemen und Damen kommen zu Besuch. Am Tisch herrscht nicht diese frivole Schöngeisterei, die man in London so schätzt ...«
    »An unserem Tisch gibt es wenig Esprit«, unterbrach Mrs Hertle sie. »Sind wir auf der Höhe der Zeit?«
    »Das seid ihr ganz gewiss, meine Liebe«, versicherte Henrietta ihr mit einem Lächeln, dem Wärme innewohnte.
    Als Hayden spürte, dass Mrs Hertle erneut zu ihm herübersah, fragte er sich, ob die Dame des Hauses ahnte, wie sehr Henriettas Stimme ihm unter die Haut ging. Wie hätte es auch anders sein können? Ihre Stimme hatte eine angenehme Färbung. Henrietta sprach betont und sicher und war in der Lage, ihren Worten Ausdruck zu verleihen, Gefühle offenzulegen oder sie ganz zu verheimlichen.
    In ihrer Gegenwart hatte er das Gefühl, auf einer Klippe zu stehen. Bei der Höhe verschlug es ihm schier den Atem, ihm wurde schwindelig. Eine unsichtbare Kraft zog ihn in ihren Bann.
    Henrietta führte die Gabel zu ihrem schön geschwungenen Mund. »Das schmeckt köstlich. Habt ihr eine neue Köchin?«
    »Habe ich das noch nicht erzählt? Charles hat eine französische Köchin für uns gefunden, die in einem adligen Haus gearbeitet hat, ehe all die Unruhen in jenem Land ihren Lauf nahmen.«
    »Ich bewundere Ihren Geschmack, Leutnant Hayden«, betonte Henrietta.
    »Charles ist auf vielen Gebieten sehr bewandert«, warf Robert ein. »Was hältst du zum Beispiel von diesem Rotwein, Charles? Er stammt aus Spanien, wie man mir sagte ...«
    »Er kommt nicht aus Spanien, wie du weißt«, erwiderte Hayden und sah, dass sein Freund ein Lächeln unterdrückte.
    »Woher kommt er denn?«, fragte Robert mit Unschuldsmiene.
    »Das ist ein sauber geschmuggelter Wein aus den französischen Pyrenäen«, erklärte Hayden. Er wandte sich an den anderen Gast. »Besitzt Ihre Familie ein Haus in London, Miss Henrietta?«
    »Nicht mehr, aber mein Vater besaß dort viele Jahre eines. Wir wohnen so nah an der Stadt, da lohnt es sich nicht, ein ganzes Haus zu unterhalten. Verzeihen Sie, wenn ich das Thema wechsle, Mr Hayden, aber woher wissen Sie, dass dieser Rotwein aus den französischen Pyrenäen und nicht aus Spanien stammt? Die beiden Staaten teilen sich doch in diesem Gebirge die Grenze, nicht wahr?«
    Roberts eben noch unterdrücktes Lächeln entfaltete sich nun ganz. Er empfand eine diebische Freude, seinen Freund aufzufordern, aus sich herauszukommen.
    Hayden hob resigniert sein Glas. »Es liegt hauptsächlich am Stil. Franzosen und Spanier sind bei Weinen unterschiedlicher Auffassung. Und schließlich hat jede Rebsorte ihre ganz eigene Farbe.« Hayden kostete den Wein. »Dies ist eine gelungene Mischung aus Carignane - Teret noir, vielleicht mit einem kleinen Anteil Picpoule. Aber ich bin kein echter Weinkenner. Meine Onkel konnten genau bestimmen, wer den Wein kelterte und wo die Trauben reiften. Schier endlos konnten sie sich über die Bodenbeschaffenheit auslassen und schüttelten dann den Kopf, was für rückständige Anbaumethoden doch die ländlichen Winzer hatten.« Er hielt das Glas gegen das Licht. »Dort, wo diese Traubensorten gekeltert werden, ist die Erdschicht über dem Felsgestein oft so dünn, dass der Winzer ein Setzholz benutzen muss. Und zwar eine Eisenstange, um eine Vertiefung in dem Gestein zu schaffen, in die der Wein dann gepflanzt wird. Dann lässt man den Wein über den Boden
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