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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio
Autoren: Ana Veloso
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der gutaussehende Kavalier das Wort an sie. Er blickte ziemlich streng drein, und plötzlich fand Ana Carolina ihn nicht mehr ganz so vertrauenerweckend wie noch Sekunden zuvor. Und auch nicht mehr so schön.
    »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, tadelte er sie. »Sie hätten auf die Rückkehr Ihrer Freunde warten sollen.«
    »Sie sind nicht meine Freunde«, erwiderte Ana Carolina und schämte sich Augenblicke später für ihre dumme Antwort. Was ging es diesen Mann an, ob sie in Begleitung ihrer Cousine ausging oder in der von Freunden?
    »Es freut mich, dass Sie wenigstens in diesem Punkt noch klar sehen. Freunde lassen eine junge Dame wie Sie nicht allein in einer solchen Umgebung zurück.«
    »Geschweige denn in der Obhut eines Wildfremden …
Schatz.
«
    Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie haben völlig recht. Verzeihen Sie bitte meinen Mangel an Umgangsformen. Ich bin … nennen Sie mich einfach Antoine.«
    »
Enchantée,
Monsieur Antoine. Und danke für Ihren heldenhaften Einsatz. Wären Sie vielleicht noch so freundlich, mir ein Taxi zu rufen?«
    »Selbstverständlich, Mademoiselle …« Er schaute sie fragend an.
    »Sie dürfen mich Caro nennen.« Sie sprach die Kurzform aus wie die Franzosen, also mit der Betonung auf der letzten Silbe –
Caroh.
    Sie traten durch die Drehtür, deren abgewetzte Mattglasscheiben einmal mit goldenen Schnörkeln verziert gewesen sein mussten, ins Freie. Die Kälte ernüchterte Ana Carolina augenblicklich. Ihre dünnen Seidenstrümpfe und die feinen Tanzschuhe waren für derart arktische Temperaturen denkbar ungeeignet.
    »Sie sollten lieber drinnen warten, Mademoiselle Caro, bis ich einen Wagen aufgetrieben habe.«
    Dankbar lächelte sie ihm zu und nickte. Er erwiderte ihr Lächeln, und prompt verwandelte sich sein Gesicht wieder in das eines strahlenden Helden. Er hatte blendend weiße, perfekt angeordnete Zähne – etwas, was man im Nachkriegseuropa nur selten zu sehen bekam.
    Ana Carolina stapfte über den mit Brandlöchern übersäten Teppich zu einem Sofa. Es sah schmuddelig aus, aber das war ihr egal. Sie musste sich setzen, denn plötzlich überfiel sie eine schier unüberwindbare Erschöpfung.
    »Mademoiselle Caro?«, hörte sie eine Stimme wie aus großer Entfernung. »Kommen Sie, Ihr Wagen ist da.«
    Ana Carolina schlug die Augen auf. Sie musste eingenickt sein. Jesus Christus! Blieb ihr denn vor diesem Antoine keine einzige Peinlichkeit erspart? Erst wurde er Zeuge ihres traurigen Aufenthalts in dieser Spelunke, nun erwischte er sie auch noch dabei, wie sie ihren Rausch ausschlief.
    Er nahm ihren Arm und führte sie die Stufen zum Trottoir hinab. Dann hielt er ihr die Tür des Wagens auf und ließ sie einsteigen. Kurz bevor er die Tür wieder schloss, raunte er ihr zu: »Wenn Sie einen wirklich unvergesslichen Abend erleben wollen, dann kommen Sie am Freitag um 20  Uhr zu Alfred, an der Madeleine. Ich erwarte Sie dort.«
    Der Wagen fuhr an. Ana Carolina verschlief die gesamte Fahrt und wachte erst wieder auf, leicht benebelt, als der Fahrer sie unsanft anstupste.
    »Was macht das?«, konnte sie sich gerade noch aufraffen zu fragen.
    »Hat der Herr schon erledigt.«
     
    Von dem heimlichen Ausflug der beiden jungen Frauen erfuhren Tante Joana und Onkel Max nie etwas. Als sie am nächsten Tag heimkehrten – »oh, es tut uns leid, Kinder, wir mussten über Nacht bleiben« –, hätten sie sich höchstens über die Ringe unter Maries Augen oder den Geruch nach kaltem Rauch in der Pelzstola wundern können. Doch sie waren zu sehr mit sich selbst und mit der Krankheit ihrer Freundin beschäftigt, um irgendetwas zu bemerken. Es entging ihnen ebenfalls, dass Ana Carolina und Marie, anders als sonst, kaum miteinander sprachen. Die Cousinen hatten sich heftig gestritten.
    »Wie konntest du nur einfach verschwinden?«, empörte sich Marie. »Wir haben uns große Sorgen gemacht, als du fort warst, erst recht, nachdem wir vom Portier erfuhren, dass du in Begleitung eines Herrn warst. Wirklich, Ana Carolina, für so naiv hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Auch bei euch in Brasilien geht man doch nicht einfach mit dem erstbesten Fremden mit!«
    »Nein. Aber auch in Rio lässt man ein Mädchen nicht stundenlang allein in einem anrüchigen Etablissement hocken, umgeben von halbnackten Huren und sabbernden Männern.«
    »Wessen Idee war es denn, dorthin zu gehen? Deine! Du hast dich ja förmlich ausgeschüttet vor Lachen, als du den
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