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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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von der Kapelle gemacht worden ist. Der Graben neben dem Friedhof, in dem es früher einmal vor dreistachligen Stichlingen und Bitterlingen nur so wimmelte, ist zugeschüttet worden, damit demnächst die Sluiser auch dort ihre letzte Ruhestätte finden können.
    Die Deichböschung wird heute mit einem Einachsschlepper der Marke Valpadana gemäht. Dabei läuft ein Mann hinter der Maschine her, während ein anderer oben auf dem Deich geht und das Gerät mit einem langen Seil am Runterrutschen hindert. Das laute Knattern des Motors übertönt jeden Gesang, den die Mäher möglicherweise anstimmen könnten.
    Der rustikale Bahnhof ist abgerissen worden. An seine Stelle ist ein riesiges Insekt mit herabhängenden Deckflügeln getreten. Eigentlich ist es, wenn man genau hinsieht, nur ein Dach auf metallenen Säulen. Die Frohe Botschaft wird einem nicht mehr im Laufschritt überreicht, niemand evangelisiert noch vor der Schranke.
    Auf dem Hoofd sind jene Straßen, die nach Helden aus der Franzosenzeit benannt waren, zum größten Teil verschwunden. Nur die Adriaan van Heelstraat gibt es noch, obwohl die Häuser und auch die Reformierte Evangelisationsbibliothek abgerissen worden sind. Wer der Straße folgt, gelangt zu Key & Kramer, einer Firma, die hervorragend floriert in einer Welt, die nach Rohrleitungen schreit. Entlang des Vlaardingerdeichs liegen, auf der Maasseite, kilometerlange Rohrstapel, die die Sicht auf den Fluss versperren. Ja, um die Zukunft von Key & Kramer und der Menschen, die dort arbeiten, muss man sich keine Sorgen machen.
    Den Wasserturm mit seinen mittelalterlichen Zinnen hat man schleifen lassen. Das Schwimmbad mit seinen sechzig Kabinen, in denen einst Freundschaften fürs Leben geschlossen wurden, hat man mit Sand verfüllt. Dort befindet sich jetzt ein kahler Parkplatz, wo sich, heiser und abgehackt rauschend, ein paar Pappeln aus der Erde gewunden haben. Die Mole selbst, die früher mit ihrer kleinen, aber hübschen Grünanlage, die gleich hinter dem Fährsteg lag, die Sluiser vor allem am Sonntag nach der Kirche einlud, ja verführte, einen Abstecher hinaus zu machen, ist in eine gestreifte Steinwüste verwandelt worden. Zwischen den Streifen warten die Autoschlangen auf eines der Boote, die den Fährdienst zu der Insel auf der anderen Seite der Maas unterhalten. Es sieht so aus, als wäre der Fähranleger von einer riesigen Hand hochgehoben und nach Osten an die Stelle verschoben worden, wo sich jetzt der treppenförmige Anlegesteg befindet. Dort, wo der alte Steg war, hat man eine nackte Kaimauer errichtet. Die Insel ist von der Industriebesiedelung praktisch zerstört worden.
    Den Außenhafen hat man mit einem hohen Damm versehen, sodass nie wieder Flutplanken angebracht werden müssen. Aber es wird auch niemand mehr durch den Anblick von Straßenlaternen, die aus dem mit einem dünnen, aber farbenfrohen Ölfilm bedeckten Maaswasser ragen, verzaubert werden. Und wer über dem Deich Bibeln sammelt, kann diese jetzt beruhigt auf das zweite Brett von unten stellen.
    Die Fabrik De Neef & Co. hat einem Viertel mit lauter Maisonettehäusern weichen müssen. In dem immer noch vorhandenen, mit kleinen Holzstegen überbrückten Wassergraben entlang des Fabrikgeländes wird nicht gemordet. Der Gelbrandkäfer ist ausgewandert. Die Salamander haben das Weite gesucht. Die Rückenschwimmer schwimmen woanders auf dem Rücken. Wer heute einen Kescher an dem mit hölzernen Planken ordentlich befestigten Ufer entlangzieht, fängt nur noch ein paar giftgrüne glitschige, stark riechende Algen sowie zwei sich häutende Wasserasseln und einen Flohkrebs.
    Ja, es ist erstaunlich, wie sich eine Stadt in so kurzer Zeit derart verändern kann. Wer kennt noch die Taanstraat? Wo ist der Musikpavillon geblieben? Aber im Zure Vissteeg gibt es noch die Schlitze, in die man Flutplanken schieben kann! Aber das Schanshoofd, mein Gott, was ist daraus geworden? Die Rote Villa ist abgerissen worden, die Häuser entlang des Wassers sind nahezu verschwunden. Man muss es beinahe als ein Wunder bezeichnen, dass das Gebäude von Dirkzwager noch steht. Aber natürlich laufen keine Boote mehr aus, um Nachrichten in Flaschen abzuholen. Sicher, die Maaskant gibt es noch, obwohl auch sie ordentlich befestigt worden ist; aber heutige Pärchen fahren mit dem Zug zur Diskothek nach Rotterdam.
    Auch der Charakter des Kerkeilands hat sich vollständig verändert, weil die stark riechende und wie ein Monolith aufragende Mehlfabrik abgerissen
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