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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich
Autoren: Maarten 't Hart
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sie die Fingernägel, die sie auf Mauds Geheiß hatte wachsen lassen, abschneiden sollte. Beim Schreibmaschineschreiben waren sie ihr ziemlich hinderlich gewesen. Sie sah auf ihre Hände. Es stimmte, mit langen Fingernägeln sahen sie viel weniger plump aus. Sie konnte sich nicht überwinden, sie zu kürzen. Dann lackierte sie die Nägel. Anschließend stieg sie die Treppe zur Haustür hinunter und war erstaunt, dass es draußen so kalt war. »Dabei haben wir Sommer«, dachte sie. Ob sie einen Mantel anziehen sollte? Aber sie dachte: »Was macht es schon, wenn ich mich erkälte.« Sie zog die Tür hinter sich zu und ging zum Bahnübergang. Sie hoffte, dass ein ganz langer Zug mit vielen erleuchteten Fenstern vorbeifahren würde. Aber es kam kein Zug. Sie überquerte den Bahnübergang und ging auf der Burgemeester de Jonghkade am Wasser entlang. Sie roch den salzigen, leicht fauligen Geruch des Wassers. Dieser Geruch rief ihr die Sommer ihrer Jugend in Erinnerung, die Sommer, in denen sie ins Schwimmbad gegangen war, die Sommer, in denen es, nach Iemkes Abreise, nie wieder jemanden gegeben hatte, zu dem sie in die Kabine durfte.
    Sie gelangte auf die Hafenmole, schaute über das breite Gewässer, auf dem sich das milchige Mondlicht wogend widerspiegelte. Sie ging auf den am höchsten gelegenen Fährsteg. An der Stelle, wo der Steg schräg zum Wasser hinunterführt, blieb sie stehen. Sie betrachtete die Ölflecken auf den Wellen. Sie dachte: »Wenn das Wasser nur nicht so schmutzig wäre.« Sie stellte sich an den Rand. »Ich wünschte, das Wasser wäre sauberer«, murmelte sie, »ich wünschte, das Wasser wäre sauberer.« Sie machte noch einen Schritt und war jetzt nur noch einen Pflasterstein vom eisernen Rand des Stegs entfernt. Schritte ertönten. Sie sah sich um und erblickte einen etwa siebzigjährigen Mann.
    »Guten Abend«, sagte er, »machen Sie auch noch einen kurzen Abstecher auf die Mole?«
    »Ja«, erwiderte sie spröde und machte einen Schritt zurück.
    »Es ist auch das richtige Wetter dafür.«
    »Ich finde es ziemlich kalt«, erwiderte sie.
    »Stimmt, es ist recht kalt für die Jahreszeit, aber ich mag das. Wenn es warm ist, schwitzt man so zwischen den Laken.«
    Der alte Mann trat an ihre Seite, zwei Schritte vom eisernen Rand des Stegs entfernt.
    »Ich habe mich immer gefragt«, sagte er, »wo die Männer, die auf Nowaja Semlja überwintert haben, genau gelandet sind. Hier? Oder weiter dort drüben? Oder an der Monsterse Sluis? Wie gerne würde ich das wissen! Stellen Sie sich vor: Eine kleine Gruppe von Männern, die die schrecklichsten Entbehrungen hinter sich hat, kommt hier an Land! Hier! Sie haben die Strapazen überlebt. Und warum? Weil sie überleben wollten. Ist das nicht phantastisch? Trotz allem, was sie mitgemacht haben – fürchterliche Krankheiten, entsetzliche Kälte, Angriffe von Eisbären, sterbende Kameraden, Erfrierungen, Hunger, unermessliches Elend –, haben sie unbedingt überleben wollen. Und hier, hier haben sie ihren Fuß an Land gesetzt.«
    »Stimmt das?«, fragte sie.
    »Aber sicher«, antwortete er, »wussten Sie das nicht?«
    »Nein.«
    »Es steht in dem Buch von Lehrer Blom«, sagte er.
    »Oh, ja?«
    »Eigentlich müsste man hier einen Gedenkstein aufstellen«, meinte er. »Und sei es auch nur, um uns daran zu erinnern, wie groß der Wille zu überleben sein kann.«
    Sie nickte nur und schaute auf das Wasser, das so schmutzig aussah. Sie machte einen Schritt zurück. Die Kirchenglocke schlug.
    »Es ist schon spät«, sagte sie.
    »Ja, es wird allmählich Zeit, sich auf den Heimweg zu machen«, erwiderte er, »ich geh dann mal wieder zurück in die Hendrik Schoonbroodstraat.«
    Sie machte noch einen Schritt zurück. Der alte Mann stand nun näher am Wasser als sie. Er drehte ich um, betrachtete sie genau und lächelte ihr dann zu.
    »Jetzt seh ich erst, wen ich da vor mir hab«, sagte er. »Wenn das nicht die Tochter von Klaas Onderwater ist! Aus der Sandelijnstraat! Du siehst so unglaublich proper aus, dass ich dich zuerst nicht erkannt habe. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich Dienst hatte und in der Polizeiwache saß. Ich habe auf den Markt hinausgeguckt, und da habe ich ein Mädchen mit dem Kreisel spielen sehen. Sie hat den Kreisel eine Ewigkeit drehen lassen. Schließlich bin ich dann hinaus auf den Markt gegangen und habe zu ihr gesagt: ›Musst du nicht mal langsam nach Hause? Dein Vater und deine Mutter machen sich bestimmt Sorgen.‹«
    »Ja,
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