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Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)

Titel: Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
Autoren: Alexandra Fuller
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Ach, ist der schön! Dieser herrliche Schwanz! Hast du das gesehen?« Aber das Fernglas bietet sie mir nicht an. »Da fliegt er davon. Da, sieh dir das an – schwupp, schwupp.« Mum holt Luft, ein sanftes Lächeln um die Lippen. »Ach, wie ich die Abende liebe«, sagt sie. »Der schönste Lohn für die Mühen des Tages, findest du nicht?«
    Und sie hat Recht. Die Abende hier am Nordufer des Sambesiflusses sind ergreifend schön. Ein bläuliches Band aus dem Rauch der Küchenfeuer des nahe gelegenen Dorfs schwebt unstet über der Farm. Smaragdgrün gefleckte Tauben gurren: »Mutter tot, Vater tot, Onkel tot, Tanten tot, und mein Herz macht bumm, bumm, bumm.« Jenseits des Fahrdamms quaken die Frösche. Die Luft ist voll zischender Käfer und Zikaden, Moskitos und Tsetsefliegen. Vor einem graurosa Himmel schwingen sich weiße Reiher flussaufwärts, um sich auf den Anabäumen in Dads Bananenplantage zur Nacht niederzulassen. »Ich erlaube ihm nicht, die Bäume zu fällen«, sagt Mum. »Die Vögel lieben sie.«
    Aber so viel Leben ist nicht ohne das entsprechende Gegengewicht an Tod und Verwesung zu haben: Am nächsten Morgen wird das Hausmädchen meiner Eltern, Hilda Tembo (in der Familie »Big H« genannt) einen halben Eimer voll toter Insekten und zwei Geckokadaver unter dem Baum des Vergessens zusammenfegen. In ein paar Monaten werden drei Jack-Russell-Terrier in Dads Büro einer Kobra zum Opfer fallen, und ein vierter wird von dem Krokodil in Mums Fischteichen verspeist. Und eines Morgens wird Dad aus dem Schlafzimmer treten und sehen, wie eine Python in bilderbuchmäßiger Perfektion unserem Kater Wallace die Luft abdreht. »Hier draußen muss man lernen, nicht wegen jeder Kleinigkeit traurig zu sein«, sagt Mum. Sie schüttelt den Kopf. »Nein, sonst käme man aus dem Trauern gar nicht mehr heraus.«
    Eines verschweigt meine Mutter bei all ihrem Gerede über Pillen und ihr chemisches Ungleichgewicht: Sie weiß nicht nur, wie es sich anfühlt, wenn der Schmerz sich über das Blut im ganzen Körper ausbreitet, sie kennt auch die Risse, die im Herzen entstehen. Sie will mit mir nicht darüber reden, dass ihre Genesung vom Wahnsinn der Trauer nicht allein mit Verschreibungen zu bewerkstelligen war, sondern vor allem mit Willenskraft. »Manchmal habe ich die Leute beneidet, die in Sackleinen die Kafue Road auf und ab laufen«, sagte sie einmal. Und es ist sicher richtig, dass auch Mum diesen schwersten Grad unheilbarer Geisteskrankheit als einen möglichen Ausweg in Betracht gezogen hat. Aber sie entschied sich für einen anderen Weg und fand zu sich selbst zurück, und das hatte herzlich wenig mit dem äußerst talentierten Psychiater zu tun und dafür umso mehr mit Vergebung: Sie vergab der Welt, und ihr Verstand kehrte zurück. Sie gewährte sich selber Amnestie, und ihre Seele hatte wieder ein Heim. Die Vergebung brauchte Zeit, sie brauchte diese Farm, und sie brauchte den Baum des Vergessens. Vor allem aber brauchte sie das, was kein Schmerz meiner Mutter jemals hatte rauben können: ihren Mut.
    Nach dem Aufenthalt auf der psychiatrischen Station des Krankenhauses in Simbabwe, wo man sie auf ein Bett geschnallt und ihr Wahnsinns-, Glücks-, Panik- und Schlafpillen in den verschiedensten Dosierungen verabreicht hatte, blieb Mum – restlos erschöpft – fast ein Jahr lang in dem gemieteten Häuschen in der Nähe von Lusaka im Bett liegen. Vanessa und ich waren inzwischen beide verheiratet und hatten eigene kleine Kinder (ich in Amerika, Vanessa damals in England), und keine von uns konnte ohne Weiteres nach Hause kommen. Dad kümmerte sich um Mum, brachte ihr den Tee, machte Abendspaziergänge mit den Hunden, damit sie ihre Ruhe hatte, ließ ihr jeden Abend ein Bad einlaufen und stellte im Radio den BBC World Service an. Aber es schien, als hätte Mum mit Mitte fünfzig aufgegeben.
    Sie schluckte die Pillen, die der äußerst talentierte Psychiater ihr verschrieben hatte, und zog die Vorhänge vor die Fenster. Eine Fledermaus logierte sich in ihrem Kleiderschrank ein, ruinierte ihre Royal-Ascot-Hüte, ohne dass Mum gegen sie zu Felde zog; Köhler kamen auf das Land und ließen die Äxte gegen uralte Mukwa-Bäume sirren, aber Mum fing keinen Krieg mit ihnen an; Diebe machten sich mit ihrer alten Pedalnähmaschine davon (das Gerät, mit dessen Hilfe meine Mutter die berüchtigten Folterkostüme für uns angefertigt hatte), doch sie seufzte nur.
    Dad tat, was er konnte. »Ich meine, heute Abend ein Bleichböckchen
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