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Unsere Oma

Unsere Oma

Titel: Unsere Oma
Autoren: Ilse Kleberger
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mir deinen Rasierapparat?«
    »Wozu?« fragte Lehrer Pieselang erstaunt.
    »Zum Rasieren natürlich«, antwortete Heiner gekränkt.
    »Zum Rasieren?« rief die ganze Familie im Chor.
    Jan fuhr seinem Bruder mit dem Finger übers Gesicht. »Du brauchst dich doch noch nicht zu rasieren! Ist ja alles glatt wie ein Kinderpopo.«
    Heiner sprang wütend auf und stürzte sich auf ihn. Trotz der mahnenden Rufe der Eltern hetzte er den flüchtenden Jan dann dreimal um den Tisch herum und schließlich zur Tür hinaus.
    »Laßt nur, das wird ihnen gut tun«, sagte Oma.
    Wirklich kamen die beiden bald darauf in bester Laune zurück. Jan hatte ein blaues Auge, und Heiners Nase blutete.
    »Nur gut, daß ich nicht das blaue Auge habe!« sagte er. »Das Nasenbluten wird schon aufhören bis heute abend.«
    Nach dem Essen badete er, zog ein frisches weißes Hemd und den Einsegnungsanzug an und borgte sich von Ingeborg etwas Kölnisch Wasser für sein Taschentuch in der Brusttasche. Von sechs bis sieben Uhr saß er einsam und ernst im Eßzimmer und erwartete seine Gäste. Bevor die Eltern mit Ingeborg fortgingen, guckten sie zur Tür herein, um sich zu verabschieden.
    »Kind«, sagte die Mutter besorgt, »du siehst aus, als stündest du vor einer schweren Prüfung.«
    »Na, ich bin doch der Gastgeber, das ist keine Kleinigkeit«, entgegnete Heiner. »Vielleicht mache ich alles falsch.«
    »Du wirst es schon richtig machen«, meinte Mutter zuversichtlich und gab ihm einen Kuß.

    Als Heiner wieder allein war, dachte er: »Wenn bloß Oma nicht in unsere Party hereinplatzt! Oma ist lieb, aber sie sieht so komisch aus und ist ganz anders als andere Großmütter. Sicher werden mich alle auslachen, wenn sie sehen, was für eine Oma ich habe.«
    Währenddessen saß Oma in ihrem Zimmer und strickte. Jan pendelte zwischen dem Garten und ihrem Zimmer hin und her. Weil ihm Heiner verboten hatte, vor den Gästen zu erscheinen, war er auf den Apfelbaum gestiegen, von wo er in das erleuchtete Festzimmer blicken konnte. Von Zeit zu Zeit brachte er Oma die neuesten Nachrichten.
    »Jetzt sind sie alle da«, rief er, als er wieder einmal hereinstürmte, »Apothekers Susanne und Ullrich, die Gerda vom Pfarrer und noch zwei Jungen und zwei Mädchen aus der Stadt. Die sind mit dem Auto gekommen. Der eine Junge ist nämlich schon uralt, mindestens achtzehn, der fährt den Wagen.«
    Oma schüttelte verwundert den Kopf. »Zu meiner Zeit kam man mit einer Pferdekutsche.«
    »Bye-bye!« rief Jan und verschwand wieder. Nach einer halben Stunde kehrte er zurück.
    »Na, ‘ne Party hab’ ich mir anders vorgestellt. Die stehen meistens nur ‘rum mit ihren Coca-Cola-Gläsern in der Hand.«
    »Tanzen sie denn nicht?«
    »Doch, manchmal tanzen sie, aber dabei machen sie ein Gesicht, als ob sie in eine saure Gurke gebissen hätten. Und die Mädchen, na ja. Die eine ist ganz hübsch, hat so große Augen!« Er zeigte den Umfang einer Teetasse. »Eine Blonde scheint Heiners Flamme zu sein. Sie hat die Augen immer halb zu, als wenn sie sich schrecklich langweilte. Sie sehen alle aus, als ob sie sich langweilten. Also, eine Party habe ich mir ganz anders vorgestellt!«
    Als er das nächste Mal kam, fragte Oma: »Sind die Kinder jetzt vergnügter?«
    »Keine Spur!«
    »Wollen wir mal für Stimmung sorgen?«
    »Okay«, nickte Jan begeistert.
    Auch Heiner war mit seiner Party nicht zufrieden. Man tanzte zwar, trank Coca-Cola, aß Kuchen und unterhielt sich, aber es wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Vielleicht lag es daran, daß der achtzehnjährige Joachim dabei war, der Bruder der blonden Gisela. Er gehörte eigentlich nicht zu diesem Kreis, aber da er seine Schwester und die anderen mit dem Auto aus der Stadt gebracht hatte, mußte Heiner ihn auch einladen. Obgleich alle sich duzten, blieb Joachim hartnäckig beim »Sie«.
    »Sie haben wohl nicht zufällig ein Glas Whisky? Coca-Cola bekommt mir nicht gut.«
    Heiner wurde rot. Nein, er hatte keinen Whisky. Joachim ließ sich in den bequemsten Sessel sinken, rauchte eine Zigarette nach der anderen und musterte die Tanzenden. Seine hübsche Schwester, die ein blaues Seidenkleid trug und eine hochgebauschte Frisur hatte, war einsilbig. Wenn Heiner mit ihr tanzte, sagte sie fast nur »ja« und »nein«. In der Tanzstunde war sie viel lustiger und natürlicher gewesen. Die Gegenwart ihres Bruders schien sie zu hemmen. Auch die anderen konnten nicht richtig warm werden. Wenn Sibylle und Axel, die Jüngsten im Kreise, einen
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