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Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)
Autoren: Gabor Steingart
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Stahlproduktion legte zwischen 1880 und 1900 um das Zehnfache zu. Der Kapitalist war zu jeder Tages- und Nachtzeit beides: Menschenschinder und Wohlstandsvermehrer.
    Und weil er trotz aller Ausbeutung und elenden Lebensbedingungen mehr bot als die bäuerliche Landwirtschaft, die nun ebenfalls von Intensivierung geprägt war, strömten die Massen ihm zu . Die Menschen fluchten, sie stöhnten, sie begehrten auf, aber sie kamen in die Fabriken, auch wenn der britische Dichter und Maler William Blake diese als » satanische Mühlen « beschrieb. 1840 arbeiteten bereits 47 Prozent der Briten in der Industrie, die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten dagegen sank im Zeitraum von 1760 bis 1840 von 53 auf 29 Prozent.
    Von dort aus ging es mit der Landwirtschaft weiter bergab. Großbritannien war das erste Land, das seinen Bauernstand fast aussterben ließ und an die Stelle der alten Elite von Großgrundbesitzern die neue industrielle Klasse setzte. Allein zwischen 1875 und 1895 verschwanden zwei Drittel der Anbauflächen für Weizen.
    Die USA folgten mit Zeitverzug. 1870 arbeitete noch über die Hälfte der Beschäftigten in der Landwirtschaft, und nur einer von vier Amerikanern lebte in einer Stadt mit 2500 oder mehr Einwohnern. Innerhalb von 40 Jahren erhöhte sich der Anteil der Industriearbeiter auf zwei Drittel. Nahezu jeder zweite Amerikaner lebte nun in einer Stadt. Die Bevölkerung der USA verfünffachte sich in der Zeit zwischen 1845 und 1914 von 20 auf 100 Millionen Menschen.
    Deutschland hörte ebenfalls auf, ein reines Agrarland zu sein. An Rhein und Ruhr, aber auch an Saar, Elbe und Spree entstanden die neuen Industrieanlagen, die auf das Landvolk wie große Magneten wirkten. Lebten im Jahr 1882 noch 42 Prozent der Menschen des heutigen deutschen Territoriums von Ackerbau und Viehzucht, waren es 1933 nur noch 21 Prozent. Die Dynastien der Familien Krupp, Siemens, Bosch und Thyssen begründeten damals ihre Macht und ihren Reichtum.
    Nun entstand die technische Infrastruktur für die späteren Wohlstandsgesellschaften. 1825 fuhr die erste Eisenbahn. 35 Jahre später betrug das Streckennetz bereits rund 100 000 Kilometer. 1888 steuerte Bertha Benz das erste Automobil durch deutsche Lande. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nannten bereits 1,7 Millionen Menschen ein solches Gefährt ihr eigen.
    1833 wurde der erste Telegrafenmast errichtet. 25 Jahre später verlegte man im Atlantik das erste Telefonkabel zwischen Europa und Amerika.
    1880 wurde die erste Glühbirne zum Leuchten gebracht. 1914 schlossen sich weite Teile Europas und Amerikas an das Stromnetz an.
    Die westliche Welt war dem Schummerlicht von Kerze und Öllampe, aber auch der Langsamkeit für immer entrissen. Es brummte, zischte und knatterte bald überall.
    Das Streben nach mehr – der»kapitalistische Mensch« entsteht
    Der Mensch selbst veränderte sich unter den Bedingungen des neuen Wirtschaftssystems. Er war nun im Hauptberuf Stahlarbeiter, Kohlekumpel oder arbeitete im Telegrafenamt, aber auch in seinem Innersten wurde er transformiert. Ein Streben nicht nur nach materiellem Wohlstand, sondern nach einem ständigen Wachsen des Wohlstands bildete sich heraus. Die erste Anstrengung galt noch dem Überleben – Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Doch das wurde allmählich zur Selbstverständlichkeit. Man wollte nun besseres und mehr Essen, bessere und mehr Kleidung, bessere Wohnungen und Aufstiegsmöglichkeiten, zumindest für die eigenen Kinder und Enkel. Der Mensch ökonomisierte sich oder wurde ökonomisiert, was für unsere Betrachtung zunächst unerheblich ist.
    Entscheidend ist, dass der Einzelne begann, dem Horizont eines besseren Lebens für sich und die Seinen hier auf Erden entgegenzurennen, freilich ohne ihn je erreichen zu können. Immer wenn er glaubte, er sei zum Greifen nahe, rückte dieser Horizont wieder in die Ferne.
    Diese Unersättlichkeit des Strebens nach » besser « durch » mehr « war und ist bis heute eine kulturelle Sensation. Der Wachstumsglaube war erfunden, und er kann es mit allen anderen Glaubensrichtungen aufnehmen. Der Kapitalismus besaß plötzlich eine innere Kraft, die auf Veränderung aus war. Und es waren keineswegs nur die Industriekapitalisten selbst, die derart nach vorne drängten. Das sich formierende Bürgertum, das nicht mehr davon ausging, der Einzelne sei durch Glaube und Geburt definiert, sondern könne sein Schicksal selbst bestimmen, wurde ebenfalls zum Träger der Idee vom
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