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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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verheiraten? Wäre es nicht naheliegend gewesen, Druck auf Valentin auszuüben, damit dieser die Finger von dem Mädchen ließe? Aber das war nicht geschehen. Vielleicht hatten die Eltern sich damit begnügt, tatsächlich ihren Sohn, den älteren Bruder, als Bewacher von Derya abzustellen. War das wirklich, wie die wackelige Anklage der Staatsanwaltschaft suggerierte, das Motiv für eine bestialische Tat?
    Die Staatsanwaltschaft. Hannes Eisenrauch. Ruth seufzte, während sie die Reste der Limetten-Mango-Creme in sich hineinschaufelte. Warum kehrten ihre verdammten Gedanken bloß immer zu ein und demselben Punkt zurück?
    B ERLIN- W ESTEND, M OHRUNGER A LLEE,
EIN S AMSTAG IM F EBRUAR, VIERZEHN U HR
    Beinahe lautlos hatte seine Mutter die Tür geöffnet und das Tablett neben sein Bett gestellt. Dann hatte sie dagestanden und ihn betrachtet. Valentin hatte ihren Blick auf seinem Gesicht gespürt. Der Blick fühlte sich nicht zärtlich an. Eher prüfend. Und ratlos. Er hatte die Augen geschlossen gehalten, aber er hatte auch nicht so getan, als ob er schliefe. Sie wusste, dass er sie nicht sehen wollte. Dann hatte sie tief geatmet, etwas zu demonstrativ, in der Hoffnung, er würde sie doch noch erlösen – er dachte nicht daran –, sich umgedreht und war aus dem Zimmer gegangen.
    Er öffnete die Augen. Als Erstes sah er ihr Bild. Er hatte es letzte Woche machen lassen. Auf Leinwand gespannt, fünfundzwanzig mal fünfundzwanzig. Er wollte sie nicht riesengroß an der Wand hängen haben, das wäre monströs und bedrohlich. So war es gerade richtig. Derya drehte sich über die linke Schulter um und lachte ihn direkt an. Eine lockige Strähne lag über ihrer Stirn. Er erinnerte sich genau an den Moment. Es war der Abend gewesen, da draußen, am Teufelsfenn. Vorher war Schluss gewesen zwischen ihnen. Aber als sie mit Michelle zum Fenn gekommen war, hatte er gewusst, er würde dem Rat von dieser Sergul (»Lass sie in Frieden, du bringst sie in Gefahr«) nicht folgen können. Er hatte hinter ihr gesessen und ihren Rücken angestarrt, der so beweglich war, als hätte sie kein Skelett darin, sondern eine Gummischlange. Ihr T-Shirt war weit ausgeschnitten, darunter hatte sie ein schwarzes Top getragen, mit schwarzen Trägern. Und einen BH mit Spitze. Er hatte angefangen, mit seinem Handy Fotos von ihrem Rücken zu machen. Von ihren Haaren, ihrem Hintern, er konnte nicht aufhören. Dann hatte sie es gemerkt und sich umgedreht, er hatte das Foto gemacht, und Derya hatte gesagt: »Hör auf, du Spast.« Sie hatte sich auf ihn geworfen und versucht, ihm das Handy wegzunehmen, und dann … Dann waren sie wieder zusammen. Das Bild an seiner Wand würde ihn immer daran erinnern.
    Valentin beugte sich zu dem Tablett hinunter. Natürlich Vollkornmüsli. Er nahm die Glasflasche mit der Milch und trank in langen Zügen. Dann schnappte er sich den Umschlag. Taschengeld. Dezent präsentiert. Er warf einen Blick hinein, zweihundert Euro, und legte den Umschlag zu den anderen. Noch etwas über ein Jahr. Dann hätte er sein Abi in der Tasche. Er wäre volljährig und dann: Abflug. Seit drei Jahren sparte er. Er gab Nachhilfe und räumte im Sommer im Biergarten am Schlachtensee die Gläser weg. Mit Georg zusammen. Seine Mom fand das »abartig«, aber sein Vater sagte, er könne ruhig wissen, was ehrliche Arbeit sei. Als wenn der ehrlich arbeiten würde.
    Er hatte fast sechstausend zusammen. Bis nächstes Jahr kämen noch mal zweitausend dazu. Ein bisschen was gab er ja auch aus, für Handy und iTunes. Manchmal ein neues Board. Aber für Weggehen oder Klamotten war ihm sein Geld zu schade. Als er mit Derya zusammen war, war das anders gewesen. Er hatte ihr gerne etwas geschenkt oder sie eingeladen. Aber jetzt?
    Er wollte nach Neuseeland. Sofort, gleich im August nach dem Abi. Für ein Jahr mindestens. Jonas wäre dann schon im Gymnasium und könnte auf sich selbst aufpassen. Und zur Not gab’s immer noch Skype.
    Valentin warf sich wieder auf sein Kissen, schloss die Augen und dachte an den Ozean. Er wollte surfen und Wellen reiten. Und sich Arbeit suchen, am besten was mit Handwerk und was Cooles. Boards bauen oder so. Bloß keinen intellektuellen Scheiß. Vielleicht eine Maori-Frau heiraten. Er musste grinsen. Aber das Bild von Derya, das würde er überall mit hinnehmen.
    B ERLIN- M OABIT, L ANDGERICHT,
EIN M ITTWOCHMORGEN IM F EBRUAR, VIERTEL VOR NEUN
    Ernst Hochtobel passte Ruth gleich hinter dem Personaldurchgang ab. Er war aufgeregt, das
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