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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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auf Süßes; das Gebäck, das auf der großen Silberplatte direkt vor ihrer Nase lag, sah trocken aus. Also stopfte Derya sich mit den Fruchtwürfeln voll – der letzte schien Papaya gewesen zu sein, eine Frucht, die sie schon in frischem Zustand widerlich fand – und nippte an dem starken Tee, den sie sich geholt hatte. Sie dachte an Ben & Jerrys. Es ging nichts über das Ben-&-Jerrys-Eis mit den Stückchen, die schmeckten, als seien sie aus rohem Kuchenteig. Häägen Dasz war Dreck dagegen. Wenn sie bei Vali war, aßen sie immer Ben & Jerrys. Derya dachte daran, wie sie das letzte Mal bei Vali gewesen war, bevor die Ferien angefangen hatten, und bekam schreckliche Sehnsucht. Vali sollte mit seinen Eltern nach Südfrankreich fahren, sie hatten dort ein Haus, natürlich. Vali fand es zum Kotzen, dass er in die Provence musste, er beschwerte sich, dass es stinklangweilig war, seine Mutter arbeitete im Garten und trank zu viel. Sein Vater las, arbeitete und trank ebenfalls zu viel. Vali und sein kleiner Bruder mussten den ganzen Tag am Pool sitzen.
    »Du Armer, den ganzen Tag am Pool!«, hatte Derya ihn gespielt bemitleidet und dann in die Seite gezwickt. Daraufhin hatte Vali sie gekitzelt, und als sie schreien wollte, hatte er ihr den Mund zugehalten, damit seine Eltern sie nicht hörten. Sie hatten ein bisschen auf dem Bett gerauft und dann geknutscht. Und dann, gerade als Derya den Reißverschluss von Valis Hose geöffnet hatte, klopfte seine Mutter an der Zimmertür. Vali hatte sich stöhnend von ihr heruntergerollt und sich ein Kissen vor die Hose gehalten. Derya hatte einen Lachkrampf bekommen. Valis Mutter hatte es echt raus, immer dann ins Zimmer zu kommen, wenn sie kurz davor waren. Sie tat stets so, als sei sie echt super offen und als täte es ihr furchtbar leid, dass sie gestört hatte, aber Derya wusste genau, dass Valis Mutter ein todsicheres Gespür dafür hatte, wann es brenzlig wurde. Sie konnte Derya nicht ausstehen, obwohl sie immer scheißfreundlich war. Aber Derya hatte die Blicke aufgefangen, die Valis Mutter ihr zuwarf, wenn ihr Super-Söhnchen nicht in der Nähe war. Wenigstens hatte sie ihnen das Ben-&-Jerrys-Eis gebracht. Das hatten sie dann gegessen und »Dark Shadows« dazu gesehen, zum zehnten Mal. Sie hatten sich mit dem Eis gefüttert, bis der Becher leer gewesen war. Sie hatten geknutscht und das Eis auf der Zunge des anderen geschmeckt. Aber mehr hatten sie sich nicht getraut. Es war wunderschön gewesen. Und jetzt meldete sich Vali nicht mehr. Seit fast fünf Wochen. Jeden Tag schickte sie ihm SMS . Jede Stunde eine.
    »Träumst du?« Sergul saß ihr gegenüber und rüttelte Derya leicht am Arm.
    Derya hatte ihre Cousine tatsächlich nicht bemerkt, umso mehr freute sie sich, dass Sergul jetzt zu ihr an den Tisch gekommen war.
    »Kommst du mit? Eine rauchen.« Sergul wartete Deryas Antwort nicht ab, sondern stand auf und zeigte mit dem Kopf zur Tür. Sergul war noch besser als das Handynetz überall. Sie war auch eine »Cousine«, die Tochter von Bozan, aber sie war total anders als der »Onkel« und seine Söhne, ihre Brüder. Sergul war schon zwanzig, und sie studierte in Ankara. Derya hatte nicht gewusst, dass es kurdische Mädchen wie Sergul gab. Sie war groß, schlank und hatte wunderschöne Haare, die sie zu einem kurzen Bob geschnitten hatte. Sie trug so coole Klamotten, dass sie genauso gut aus Mitte hätte kommen können. Sergul musste sich auch nicht verstecken beim Rauchen, sie diskutierte lebhaft mit den Männern auf dem Fest, und sie hatte Derya von ihrem Leben in Ankara erzählt. Es war ein normales Studentenleben, sie ging in Bars, hatte Typen, ging shoppen und auf Konzerte. Derya hätte geschworen, dass es Mädchen wie Sergul und ein Leben, wie Sergul es führte, nur außerhalb der Türkei gab. Aber ihre Cousine hatte schallend gelacht und Derya damit aufgezogen, dass sie »bescheuerte Vorurteile« gegen Ausländer habe. Derya schämte sich ein bisschen, dass sie nicht mehr wusste über das Leben als Kurdin. Über das Leben in der Türkei. Aber nur Sergul gegenüber, weil die offenbar mühelos hinbekam, was für alle anderen Mädchen, die Derya kannte, egal, ob türkisch oder kurdisch, ein Kampf war. Sie selbst war Berlinerin, in Berlin geboren, mit kurdischen Wurzeln. So sah sie es, und sie glaubte, dass auch Mama das so sah. Heimlich jedenfalls. Mama war stolz auf ihre kleine Meerjungfrau, so nannte sie Derya. Sie war stolz darauf, dass Derya das Abi machte und
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