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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Autoren: Bertrand Russell
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andere untergeordnet wird ist die Heranbildung von mutigen Kriegern. Zu diesem Zwecke soll schon eine strenge Zensur über die Geschichten ausgeübt werden, die Mütter und Ammen den Kindern erzählen; Homer darf nicht gelesen werden, weil dieser dekadente Verseschmied seine Helden weinen und seine Götter lachen ließ; die Aufführung von Dramen ist zu verbieten, weil Schurken und Frauen darin vorkommen; Musik ist nur in bestimmter Form, und zwar in der von Nationalhymnen und Märschen gestattet. Die Regierung soll in den Händen einer kleinen Oligarchie liegen, die Lug und Trug anzuwenden hat – Betrügerei bei der eugenischen Auswahl, ausgeklügelte Lügen bei dem Versuch, die Bevölkerung von dem biologischen Unterschied zwischen den höheren und niederen Klassen zu überzeugen. Schließlich sollen in weitem Ausmaß alle Kinder umgebracht werden, die nicht im Rahmen dieser amtlichen Gaunereien zur Welt gekommen sind. Dazu wird uns gesagt, dass es nicht darauf ankomme, ob die Mitglieder dieser Gemeinschaft glücklich seien, denn Vortrefflichkeit herrsche im Ganzen, nicht im Einzelnen.
    Dieses System gewinnt seine Überzeugungskraft aus der engen Verbindung, die aristokratische Vorurteile und eine »göttliche Philosophie« miteinander eingehen; ohne die letztere läge ihr abstoßender Charakter offen zutage. Mit Hilfe von schönen Redensarten über das Gute und das Unveränderliche wird den Menschen eingeredet, dass es ihre Aufgabe sei, den status quo zu bewahren, so wie es im idealen Himmelsstaat geschieht. Für jeden Menschen mit starken politischen Überzeugungen – und die Griechen hatten erstaunlich heftige politische Leidenschaften – sind die »Guten« selbstverständlich die Anhänger der eigenen Partei: wenn diese also ihre angestrebte Regierungsform durchgesetzt haben, ist nach Plato keine weitere Veränderung mehr nötig. Indem Plato jedoch seine Gedanken hinter einer metaphysischen Nebelbank verbarg, verlieh er ihnen eine so unpersönliche und neutrale Form, dass die Welt jahrhundertelang getäuscht wurde.
    Das Ideal einer statischen Vollkommenheit, das Plato von Parmenides übernahm und in seiner Ideenlehre verkörpert, kann, wie heute allgemein erkannt wird; nicht auf menschliche Angelegenheiten übertragen werden. Der Mensch ist ein höchst rastloses Tier und nicht, wie die Boa constrictor, zufrieden, wenn er einmal im Monat eine reichliche Mahlzeit erhält und den Rest der Zeit schlafen kann. Um glücklich zu sein, braucht der Mensch nicht nur diese oder jene Genüsse, sondern Hoffnungen, Aussichten und Veränderungen. Hobbes sagt: »Glück besteht darin, Erfolg zu haben, nicht: Erfolg gehabt zu haben.« Bei den modernen Philosophen ist das Ideal einer endlosen und unveränderlichen Glückseligkeit dem der Evolution gewichen, wobei ein gesetzmäßiger Fortschritt auf ein Ziel angenommen wird, das niemals ganz erreicht wird oder jedenfalls zur Zeit noch nicht erreicht worden ist. Dieser Wechsel in der Betrachtungsweise ist nur ein Teil des seit Galilei begonnenen allgemeinen Prozesses der Ersetzung statischer Elemente durch dynamische, ein Prozess, der alles moderne Denken, das politische wie das wissenschaftliche, in wachsendem Maße beeinflusst hat.
    Veränderung bedeutet nicht notwendigerweise Fortschritt. »Veränderung« ist etwas Wissenschaftliches, »Fortschritt« etwas Ethisches; Veränderungen sind unbestreitbar, während der Fortschritt eine Ansichtssache ist. Wir wollen zunächst die Veränderung behandeln, die sich im Reich der Wissenschaft kundtut.
    Bis zur Zeit Galileis folgten die Astronomen Aristoteles und hielten alles am Himmel, vom Mond angefangen, für unbeweglich und unvergänglich. Seit Laplace hat kein Astronom von Ruf diese Ansicht mehr vertreten. Wir glauben jetzt, dass Spiralnebel, Fixsterne und Planeten sich alle allmählich entwickelt haben. Einige Gestirne wie der Sirius sind »tot«. Sie haben zu irgendeiner Zeit eine Katastrophe durchgemacht, welche die Stärke ihrer Licht-und Wärmeausstrahlung ungeheuer verringert hat. Unser eigener Planet, dem die Philosophen als seine Bewohner ein ganz unverhältnismäßig großes Interesse entgegenbringen, war einst zu heiß, um Leben auf seiner Oberfläche zu ermöglichen, und wird einmal zu kalt dazu sein. Nachdem die Erde viele Epochen hindurch harmlose Krebstiere und Schmetterlinge erzeugt hatte, trat die Entwicklung in den Abschnitt, der einen Nero, einen Dschingis Khan und einen Hitler hervorbrachte. Doch ist auch dies
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