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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition)
Autoren: Robert Cormier
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besagte, und ihre Mutter kehrte in die Küche zurück.
    »Ich habe Folgendes zu sagen: Du tust Buddy Walker Unrecht. Okay, er war mit mir und den anderen damals an dem Abend bei euch im Haus. Aber er war betrunken, er hat gar nicht gewusst, was er tat. Und er hat deine Schwester nicht angerührt. Was mit deiner Schwester passiert ist, war ein Unfall; ob du’s nun glaubst oder nicht. Aber Buddy war auf jeden Fall nicht daran beteiligt …«
    »Wozu erzählst du mir das alles?«, fragte sie und war selbst überrascht, wie ruhig und vernünftig sie sich anhörte. Wie cool.
    »Diesen Anruf bin ich ihm schuldig. Hör zu, ich kann ihn nicht mal leiden. Er ist so ein Typ, den ich nicht ausstehen kann. Hält sich für was Besseres als alle anderen, meine Wenigkeit mit eingeschlossen. Aber er bereut, was er an diesem Abend getan hat. Seine Eltern ließen sich scheiden und ich hab seine miese Situation ausgenutzt. Deshalb hat er sich betrunken und ist mitgekommen, als wir bei euch im Haus waren.«
    Ich sollte auflegen, dachte sie. Tat es aber nicht. Sie war neugierig. Fragte sich, wie Harry Flowers wohl aussah. Fragte sich, ob sie ihn auf der Straße oder im Einkaufszentrum vielleicht schon gesehen hatte, ohne es zu wissen. Sie versuchte sich sein Gesicht, seine Züge vorzustellen. Sah aber nur Buddy vor sich.
    »Buddy hat Probleme. Er trinkt wieder. Eine Zeit lang hat er damit aufgehört, aber jetzt trinkt er mehr denn je.«
    Sie hörte, wie er tief Luft holte.
    »Ich hab mir überlegt«, sagte er, und seine Stimme wurde intim, wie eine Liebkosung an ihrem Ohr, »dass wir uns vielleicht mal treffen könnten.« Glatt, gewandt. »Du weißt schon, um über all das zu reden. Nur du und ich …«
    Der Hörer war plötzlich wie eine Schlange in ihrer Hand. Sie ließ ihn zu Boden fallen, und dort blieb er einen Augenblick liegen, bevor sie ihn auf die Gabel knallte.
    An einem Samstagnachmittag im November, fünf Monate später, begegneten sich Jane und Buddy zufällig im Einkaufszentrum.
    Sie hatte das Einkaufszentrum absichtlich gemieden und ihre Einkäufe stattdessen in den kleinen Fachgeschäften in der Main Street von Wickburg erledigt oder in einem neuen Einkaufszentrum, das ein paar Meilen weiter eröffnet worden war, in der Nähe von Monument.
    Er kam immer wieder ins Einkaufszentrum, hoffte sie dort zu sehen. Unternahm große Anstrengungen, um die Läden zu durchstreifen. Trieb sich in der Nähe der Eingänge herum, saß auf der Kante der Plastikbank in der Eingangshalle. Der Springbrunnen funktionierte immer noch nicht und in letzter Zeit blätterte die Farbe schlimmer ab denn je.
    Manchmal fuhr er nachmittags zur Burnside Highschool und parkte in der Nähe des Schultors – aber nicht zu nahe. Hoffte, einen Blick auf sie zu erhaschen. Wenn sie kam, mit der Büchertasche über der Schulter, löste ihr Anblick so viel Qual und Sehnsucht in ihm aus, dass ihm Tränen in die Augen schossen und seine Brust schmerzte. Er schwor sich, nie wieder hierherzukommen, tat es aber doch immer wieder.
    An diesem Novembernachmittag trafen sie direkt aufeinander. Er stieg von der Rolltreppe nach unten, sie wollte hinauf. Dabei standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
    Sie war so überrumpelt, dass sie die Stirn runzelte, zornig auf sich selbst, weil sie sich einverstanden erklärt hatte, ihre Mutter bei Filene abzuholen. Dabei hatte sie ganz vergessen, dass sie Orte meiden wollte, an denen sie ihm über den Weg laufen könnte.
    »Hallo, Jane«, sagte er.
    Obwohl der Pizza Palace mehrere Gebäude entfernt war, würzte der Geruch nach Tomatensoße und Peperoni die Luft mit Erinnerungen.
    Er war blass. Hatte abgenommen. Früher einmal hatte sie seine blauen Augen schön gefunden. Jetzt waren sie eher grau als blau. Das Weiße in seinen Augen war von Rot durchzogen.
    »Wie ist es dir so ergangen?«, fragte er.
    Sie hatte sich oft gefragt, wie sie reagieren würde, wenn sie einander wieder begegneten. »Gut«, sagte sie. Es gab keine Reaktion bei ihr. Er hätte ebenso gut ein Fremder sein können. Um nicht unnötig grausam zu sein, fragte sie: »Und wie geht’s dir?«
    Ihre Frage speiste ihm Energie ein; die bloße Tatsache, dass sie sich nach ihm erkundigt hatte. »Gut«, sagte er. »Dieses Jahr bin ich in der Schule richtig gut. Bisher lauter Einsen und Zweien.« Er musste weiterreden, musste sie festhalten. Schweigen würde bedeuten, dass er sie wieder verlor. »Zu Hause läuft auch alles gut. Meine Eltern lassen sich jetzt
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