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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition)
Autoren: Robert Cormier
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ein Bein zu stellen, das Hemd aus der Hose zu ziehen, ihm in die Backen zu zwicken. Vor allem, wenn Mädchen dabei zusahen. Er machte sich über Danny Davis lustig, während alle kicherten und diejenigen, die nicht mitlachten, sich verlegen abwandten und ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie sich ihm nicht entgegenstellten. Warum stellten sie sich ihm nicht entgegen? Vaughn war gar nicht so viel größer als die anderen Schüler der fünften Klasse. Aber er strahlte etwas Mächtiges aus, wenn er über den Schulhof stapfte, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, als fände er die Welt höchst amüsant.
    Nachdem er Vaughn Masterson mehrere Wochen lang bei seinem schmutzigen Treiben beobachtet hatte, wusste der Rächer, dass etwas getan werden musste. Er plante seine Vorgehensweise. Im Planen war er gut. Seine Mutter nannte es Träumen – du verträumst noch dein ganzes Leben, pflegte sie zu sagen. In diesen Tagträumen war er tapfer und kühn, verwegen und abenteuerlustig. Er träumte davon, was er mit Vaughn Masterson machen würde. Und wie er es machen würde. Dazu brauchte er natürlich Geduld, musste auf die richtigen Bedingungen warten. Zu den Bedingungen gehörte auch, dass die Hilfsmittel vorhanden sein mussten. Und als er die Mittel besorgt hatte, musste er eine Weile warten – sich erneut in Geduld üben –, bis sich die Aufregung gelegt hatte.
    Schließlich waren alle Bedingungen erfüllt und er führte seinen Plan aus. An diesem bestimmten Tag folgte er Vaughn Masterson auf dem Weg von der Schule nach Hause. Fuhr nicht mit dem Rad, sondern ging zu Fuß. Allerdings kein richtiges Gehen; stattdessen huschte er hinter Vaughn her, verbarg sich hinter Büschen und Bäumen. Das war so spannend wie im Fernsehen. Als Vaughn zu Hause angekommen war, wartete der Rächer auf der anderen Straßenseite, versteckte sich auf einem Balkon, der nach vorne zum Rasen hin führte. Der Balkon war ihm bei einer früheren Expedition in Vaughns Straße aufgefallen. Er hatte noch mehrere andere Dinge beobachtet: Vaughn Masterson war am Nachmittag allein zu Hause, weil seine Eltern auf der Arbeit waren. Auch das Haus mit dem Balkon stand nachmittags leer. Vaughn blieb etwa eine halbe Stunde in seinem Haus, zog sich um, machte sich in der Küche einen Happen zu essen. Der Rächer hatte seine Spioniertalente eingesetzt, um Vaughns Gewohnheiten in Erfahrung zu bringen.
    Schließlich kam Vaughn aus dem Haus, kaute den letzten Rest seines Marmeladenbrots mit Erdnusscreme. Er hatte Jeans und ein verwaschenes gelbes Hemd angezogen. Über dem Gürtel wölbte sich der Bauch leicht nach vorn. Gemächlich stieg Vaughn die Stufen hinunter, die zur Rückseite des Hauses führten. Wenn er dem üblichen Ablauf folgte, würde er das Garagentor aufmachen und sich eine Weile dort drin herumtreiben. Genau das tat er jetzt auch.
    Der Rächer überquerte die Straße und sah sich nach allen Seiten um, ob ihn jemand beobachtete. Bis auf einen streunenden Hund, der an der Ecke ein Auto beschnüffelte, lag die Straße verlassen da.
    Ein paar Schritte vor der Garage blieb der Rächer stehen und rief: »He, Vaughn, wie geht’s?«
    Vaughn tauchte aus der Garage auf, blinzelte in die Sonne, machte ein verärgertes Gesicht.
    »Was willst du denn?«, fragte er höhnisch. In dem du lag abgrundtiefe Verachtung.
    »Das da«, sagte der Rächer lächelnd.
    Aus seiner Büchertasche holte er den Revolver hervor, den er seinem Großvater gestohlen hatte. Er kniete sich hin, hielt den Revolver mit beiden Händen und drückte ab. Vaughns untere Gesichtshälfte explodierte zu Knochen und Blut, als die Kugel einschlug. Der Knall des Schusses war ohrenbetäubend, und der Rückstoß ließ den Rächer hintenüberfallen. Er landete auf dem harten Pflaster des Gehwegs. Ein heftiger Schmerz schoss ihm durch die Wirbelsäule.
    Als das Echo des Schusses verhallte, rappelte sich der Rächer auf die Beine. Die Luft war erfüllt von Schwefelgestank. In kurzen Atemzügen rang der Rächer nach Luft, während er sich umsah, nach Geräuschen in der Nachbarschaft lauschte. Alles war still. Niemand in Sicht. Der Hund weiter unten auf der Straße war verschwunden.
    Der Rächer ignorierte das Blut und das zerfetzte Gesicht. Auch den Schmerz in seiner Wirbelsäule beachtete er nicht. Mit gefährlich pochendem Herzen machte er sich an die Arbeit, wie er es geplant hatte. Er putzte den Revolver mit einem Papiertaschentuch ab. Die schwierigste Aufgabe bestand darin, Vaughn den
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