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Ungeahnte Nebenwirkungen

Ungeahnte Nebenwirkungen

Titel: Ungeahnte Nebenwirkungen
Autoren: Victoria Pearl
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Mirjam – oder war es Michaela? – hatte sich die Haare ganz kurz schneiden lassen und schwarz gefärbt, während ihre Schwester mit blondierten Strähnchen glänzte.
    »Als sie etwa fünfzehn waren, begannen die zwei sich nicht mehr gleich zu kleiden. Mirjam schnitt die Haare, sie trug fast nur noch schwarze Jeans und schwarze Hemden, während es für Michaela nie farbig genug sein konnte. In dieser Zeit war es absolut kein Problem, die zwei auseinanderzuhalten. Die Phase der Abgrenzung und der eigenen Identitätsfindung, wie meine Frau das nennt, ging ziemlich schnell vorbei. Schon mit achtzehn glichen sie einander wieder wie ein Ei dem anderen, obwohl sie das nicht mehr bewusst provozierten«, erklärte Ralf die Reihe der Fotografien, auf denen Mirjam wirklich fast immer schwarz gekleidet in die Kamera lächelte.
    Alice nickte bestätigend. »Bei Zwillingen, vor allem bei eineiigen, die auch noch dem gleichen Geschlecht angehören, kann man eine solche Entwicklung mit fast hundertprozentiger Sicherheit im Teenageralter beobachten«, erklärte die Psychologin. »Sie fühlen sich zwar dann noch immer als Einheit, erkennen aber, dass sie Individuen sind, die sich auch von einander unterscheiden. Dieser Prozess läuft vielfach unter sehr heftigen Streitereien zwischen den Geschwistern ab. Sie sehen, was sie gemeinsam haben und suchen nach dem, was sie vom anderen unterscheidet. Das ist, wie du dir vorstellen kannst, nicht so einfach!«
    Ralf fügte hinzu: »Das stimmt allerdings. In dieser Zeit flogen bei uns die Fetzen!« Er seufzte schwer geprüft auf. Dann lachte er und meinte: »Gut, dass wir in einem großen Haus außerhalb der Stadt wohnten, so störte das Gezanke niemanden außer uns selbst!«
    Nicole bemühte sich redlich, sich dieses Familienleben bildlich vorzustellen. Sie glaubte, dass es ihr aufgrund der vielen Bilder, die sie gesehen hatte, auch gelang.
    »Michaela und Mirjam haben beide Zahnmedizin studiert?« fragte Nicole. Allmählich näherten sie sich dem Ende einer glücklichen Teenagerzeit. Bald schon, das wusste Nicole, würde das Schicksal etwas trennen, was schon im Mutterleib unverrückbar zusammengehört hatte.
    Alice nickte. »Das muss ein spezielles Schiesser-Gen sein«, grinste sie. »Der Vater war Zahnarzt und seine drei Kinder traten in seine Fußstapfen!«
    Ralf stimmte in das Lachen seiner Frau ein. Doch dann wurde er ernst. »Wir haben zwar alle das gleiche studiert, doch alle an verschiedenen Universitäten. Vater hat seinen Entschluss, die Mädchen fürs Studium zu trennen, mehr als einmal bereut, denn die Telefonkosten der beiden sprengten die Grenzen seines Vorstellungsvermögens.
    Mirjam und Michaela hatten Vater grundsätzlich ja recht gegeben, als er meinte, sie würden schneller im Studium vorankommen, wenn sie nicht die gleiche Universität besuchten, aber sie mussten sich täglich wenigstens hören und die Neuigkeiten austauschen«, schloss er seinen Bericht.
    »Musst vom T-Shirt erzählen«, mischte sich plötzlich Lisa in das Gespräch der Erwachsenen ein. Sie hatte still auf Nicoles Schoß gesessen und schien schon fast eingeschlafen zu sein, doch offenbar hatte der Schein ziemlich getäuscht.
    Ralf seufzte. »Es ist ihre Lieblingsgeschichte«, erklärte er Nicole entschuldigend. Neugierig hob Nicole die Augenbrauen.
    »Also«, begann Ralf, der jetzt wie ein professioneller Märchenerzähler klang, »eines abends erzählte Mirjam ihrer Schwester, die sich wohlgemerkt über fünfhundert Kilometer von ihr entfernt befand, sie hätte sich ein tolles T-Shirt gekauft. Mirjam beschrieb es ziemlich genau. Das Shirt hatte blaue und weiße Querstreifen, einen V-Ausschnitt und auf der linken Seite waren ein Anker und goldfarbenes Tau eingestickt. Michaela fragte, ob es ein Benneton-T-Shirt sei, was Mirjam bejahte. Michaela fragte nach dem Geschäft, in dem sie es gekauft habe und nach der genauen Größe. Nachher teilte sie Mirjam mit, dass sie am gleichen Tag, zur gleichen Zeit in der Filiale des gleichen Geschäfts exakt das gleiche T-Shirt erstanden habe!«
    Ralf ließ seine Erzählung einen Moment wirken. Nicole konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Bestimmt handelte es sich hier um einen einmaligen, wenngleich schon etwas seltsamen Zufall.
    »Das war nur ein Beispiel«, unterbrach Alice Nicoles Mutmaßungen. »Ralf könnte dir noch tausend weitere nennen. Die zwei hatten einen Draht zueinander, der immer funktionierte, egal, welche Distanzen sie trennten oder
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