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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Autoren: Cynthia Hand
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kriechen. Und mein Haar! Gespenstisch. Der Blick der Frau, als sie mich so sah: zuerst verwirrt, verblüfft, dann ein bisschen ängstlich; sie hielt mich wohl für eine Art Alien, das in ein Labor zu Wissenschaftlern gehört, die sich mein Haar unter einem Mikroskop ansehen. Wie so ein Monster.
    Ich muss eingeschlafen sein. Das Nächste, was ich wieder weiß, ist, dass Mama in meiner Schlafzimmertür steht. Sie wirft mir eine Schachtel Haarfarbe von Clairol aufs Bett. Ich nehme sie.
    «Sedona Sonnenuntergang?», lese ich. «Das ist doch wohl ein Scherz, oder? Rot?»
    «Rostrot. Wie mein Haar.»
    «Aber wieso?», will ich wissen.
    «Komm, wir kümmern uns um dein Haar», sagt sie. «Reden können wir später.»

    «So, mit der Haarfarbe soll ich in die Schule gehen?», stöhne ich, als sie mir im Bad die Haare färbt; ich sitze auf dem Toilettendeckel und habe ein altes Handtuch um die Schultern gelegt.
    «Ich liebe dein Haar. Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.» Sie tritt zurück und hält auf meinem Kopf nach Stellen Ausschau, die ihr entgangen sein könnten. «So. Das wär’s. Jetzt müssen wir die Farbe einwirken lassen.»
    «Gut, dann wirst du mir jetzt alles erklären, ja?»
    Etwa fünf Sekunden lang sieht sie nervös aus. Dann setzt sie sich auf den Badewannenrand und faltet die Hände im Schoß.
    «Was heute passiert ist, ist normal», sagt sie. Und irgendwie erinnert mich das an den Tag, an dem sie mir das mit der Periode erklärte oder als sie zum ersten Mal das Thema Sex ansprach, ganz medizinisch und rational und absolut verständlich, als hätte sie die Rede jahrelang geübt.
    «Äh, hallo, wie kann das denn normal sein?»
    «Na ja, schön, nicht wirklich normal», sagt sie schnell. «Aber normal für uns. Deine Fähigkeiten entwickeln sich allmählich, und deshalb wird sich der Engel in dir auch immer deutlicher zeigen.»
    «Der Engel in mir. Klasse. Als hätte ich nicht schon genug Probleme.»
    «So schlimm ist das gar nicht», sagt Mama. «Du wirst es bald unter Kontrolle haben.»
    «Ich werde bald mein Haar unter Kontrolle haben?»
    Sie lacht.
    «Ja, irgendwann wirst du gelernt haben, solche Sachen zu verbergen, sie zu überspielen, sodass sie für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Aber fürs Erste ist Haarefärben der einfachste Weg.»
    Dauernd trägt sie Hüte, das wird mir auf einmal erst richtig bewusst. Am Strand. Im Park. Beinah jedes Mal, wenn wir uns in die Öffentlichkeit begeben, trägt sie einen Hut. Sie besitzt Dutzende Hüte und Tücher und Schals. Ich war immer der Meinung, das sie darin einfach altmodisch ist.
    «Dann passiert es dir also auch?», frage ich.
    Sie dreht sich zur Tür, lächelt schwach.
    «Komm rein, Jeffrey.»
    Jeffrey schleicht sich ins Bad, von meinem Zimmer her, wo er gelauscht hat. Das schlechte Gewissen in seiner Miene hält nicht lange an. Er wechselt übergangslos zu unverhüllter Neugier.
    «Kriege ich das auch?», fragt er. «Die Sache mit den Haaren?»
    «Ja», antwortet sie. «Das passiert den meisten von uns. Mein erstes Mal war im Jahr 1908, im Juli, glaube ich. Ich habe gerade ein Buch auf einer Parkbank gelesen. Dann …» Sie hält eine Faust über den Kopf und öffnet sie wie in einer Explosion.
    Gespannt beuge ich mich vor. «Und war dir so, als würde alles langsamer, als könntest du die Dinge hören und sehen wie nie zuvor?»
    Sie dreht sich zu mir um und sieht mich an. Ihre Augen haben die Farbe des Himmels gleich nach Sonnenuntergang, ein tiefes Indigoblau, durchsetzt mit winzigen Lichtpünktchen, die aussehen, als seien sie von innen beleuchtet. Ich sehe mich in ihren Augen. Ich sehe besorgt aus.
    «War das so bei dir?», fragt sie. «Die Zeit verging langsamer?»
    Ich nicke.
    «Mhm», macht sie leise und nachdenklich und legt ihre warme Hand auf meine. «Armes Kind. Kein Wunder, dass du so aufgewühlt bist.»
    «Was hast du denn gemacht, als es dir passiert ist?», will Jeffrey wissen.
    «Ich habe meinen Hut aufgesetzt. Damals verließen anständige junge Damen niemals ohne Hut das Haus. Und als sich das änderte, war es zum Glück schon möglich, sich das Haar zu färben. Fast zwanzig Jahre lang war ich brünett.» Sie rümpft die Nase. «Gestanden hat mir das nicht.»
    «Aber was ist das denn nun?», frage ich. «Wieso passiert das?»
    Sie schweigt eine Weile, wie um ihre Worte sorgfältig abzuwägen. «Es ist etwas des Himmlischen, das nach außen dringt.» Sie schaut etwas unbehaglich drein; es sieht
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